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Ein schonungsloser Sektionsakt männlicher Hybris

«Propofol» titelt der sechste Roman von Corinna T. Sievers und wartet mit einem Novum auf: Zum ersten Mal überantwortet die Autorin einer Männerfigur das Erzählen. Sievers legt ein gnadenloses Psychogramm misogyner Männlichkeit vor, das sich der Erbauung konsequent verwehrt.

Von Marco Neuhaus
30. September 2022

Bernhard Rohr, der Protagonist und Erzähler von Corinna T. Sievers neuem Roman Propofol, ist weit gekommen und dann tief gefallen. Er war ein renommierter Starchirurg einer Kinderklinik, bis er unter unrühmlichen Umständen seinen Posten verlassen muss. Und auch sexuell geht es beim Mittsechziger Rohr nicht mehr aufwärts: Die Erektionen werden schwächer und bleiben immer öfter auch ganz aus; körperlich attraktiv fühlt er sich schon länger nicht, seine Haut und Körpergerüche sind auch nicht mehr, wie er sie sich wünscht. Die Haare kann er sich immerhin transplantieren lassen. Von einer «Verwesung» noch zu Lebzeiten schreibt er drastisch, und besonders akut wird diese Problemlage für Rohr, denn für ihn ist es ein existenzieller Horror, von den unzähligen Frauen sexuell nicht mehr wahrgenommen zu werden, die er verführt, anbaggert, belästigt oder misshandelt. Rohrs Kopf ist daher vielleicht nicht für alle Leser*innen einer, in dem sie sich gerne 250 Seiten lang aufhalten möchten. Er ist im Betrieb rangbewusst und ein ausgemachter Frauenfeind, in seinem Triebleben verschmelzen Wut auf Frauen, Angst vor Frauen und die Konkurrenz mit anderen Männern. So klingt eine seiner (im Verhältnis noch weniger misogynen) glücklosen ‹Lebensweisheiten›:

Finanziell konnte ich es mir früher leisten, anspruchsvoll oder aus Ihrer Sicht vielleicht sogar pervers zu sein, jeder ist käuflich, erst recht jede, oder anders gesagt, jede hat ihren Preis, vielleicht mal abgesehen von Emanzen, unter denen sah ich mich gar nicht erst um.

Sein Bericht ist durchzogen von Sexphantasien und der obsessiven Schilderung körperlicher Details der Frauen, denen er begegnet.

Je weniger ihm der Sex Genugtuung verschaffen kann, desto stärker überantwortet er sich dem Substanzmissbrauch, unter anderem mit dem titelgebenden Narkotikum Propofol. Dass er seine eigenen «Sexualneurosen» in u.a. freudschen Begriffen eloquent beschreiben kann, scheint ihm jedoch keine Linderung seiner Leiden zu verschaffen. Es ist eindrücklich, oft beklemmend und teils nervenkitzelnd spannend, Rohrs Selbstanalysen zu lesen und zu verfolgen, wie er sich selbst auf der Spur ist, wie er sich verachtet und zu rechtfertigen versucht, wie er sich in einem Moment ehrlich zu analysieren versucht und im nächsten das eigene Denken und Handeln ignorant oder verlogen beschönigt.

Zur Autorin

Corinna T. Sievers, geboren auf der Ostseeinsel Fehmarn, lebt bei Zürich. Die Autorin studierte Politik, Wirtschaft, Musikwissenschaften, Medizin und Zahnmedizin. Doktorarbeit über die Prognostizierbarkeit von Schönheit. Ihr erster Roman, «Samenklau», erschien 2010 in der Frankfurter Verlagsanstalt, 2016 folgte der Roman «Die Halbwertszeit der Liebe». Beim Bachmann-Wettbewerb 2018 in Klagenfurt las sie einen vielbeachteten Auszug aus «Vor der Flut». «Propofol» ist Sievers sechster Roman.
Foto: © Stefan Baumgartner

Die beständige Geilheit, die obsessive Suche nach Sex und nach der Benutzung und Demütigung von Frauen werden zunehmend erkennbar als hilflose Selbstvergewisserungsversuche aus Furcht vor der eigenen Nichtexistenz, sei diese nun der tatsächliche physische Tod mit seinen Zerfallsvorstufen oder als dessen symbolische Entsprechung die soziale Unbedeutsamkeit oder Ächtung. Das sexuelle Verlangen ist hier eine alles durchwirkende, scheinbar übermächtige Kraft und gleichzeitig auch die Kompensation von Angst und die Erotisierung von Hierarchie und Verachtung.

Dabei bleibt die letzte grosse Operation von Rohr den Stärken des Romans eigentümlich äusserlich. Die Trennung siamesischer Zwillinge, die mit fast absoluter Sicherheit im Ableben eines der Kinder, aber dafür in der Rettung des zweiten enden wird, ist ein happiges Thema, das sich theoretisch gut in den Bereich eines Buches fügt, das immer wieder Fragen nach Leben und Tod berührt – auch wenn es hier ein wenig zu sehr wie eine Ethikseminarknobelfrage aus der Sparte «Trolley Problem» entwickelt wird.

Letztlich dient auch dieser Handlungsstrang vor allem der Figur Rohr als Beispiel für ihre Bedeutsamkeit. Die Tragik der Eltern und Kinder wird von der herrschsüchtigen Perspektive des Erzählers Rohr in die Ferne gerückt, und die Passagen, die von der Debatte des Ethikkomitees handeln, funktionieren weniger als moralphilosophische Herausforderung denn als spannende Analyse von Verhandlungstaktiken, weniger als Ethik denn als Gefecht.

Das Buch überzeugt also insbesondere als unerbittliche Anatomie einer spezifisch männlichen Hybris, von Angst und Scheitern, Ressentiments und Machtgebaren. Man kennt Corinna T. Sievers als Autorin, bei der Sex und Sexualität komplex, abgründig und insbesondere ohne um den heissen Brei herumzureden (bzw. -zuschreiben) zur Sprache kommen. Daher ist dann jeweils schnell vom Tabubruch oder der Provokation die Rede, aber es ist fraglich, ob man mit solchen Kategorien noch weit kommt, wenn man damit nur meint, dass eine Literatur eben in Kauf nimmt, etwa durch ein spezifisches Vokabular wie hier «Schwanz», «Muschi» oder «Rosette» eine gewisse Reibung hervorzurufen. Tabubrecherisch ist jedenfalls in Propofol nicht so sehr die direkte Sprache fürs Sexuelle, sondern vielleicht die Kompromisslosigkeit und relative Erbauungsverweigerung, mit der die Brutalität, die Kläglichkeit und die Verzweiflung der porträtierten Existenz zusammen ins Bild gerückt werden.

Corinna T. Sievers: Propofol. 256 Seiten. Frankfurt a.M.: Frankfurter Verlagsanstalt 2022, ca. 35 Franken.

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