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Lebensretter Pass

«Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen» – das stellt schon Bertolt Brecht in seinen Flüchtlingsgesprächen fest. Auch in Urs Hardeggers neuem Roman «Für einen Pass und etwas Leben» spielen lebensrettende Pässe eine Schlüsselrolle. Sie bilden die Klammer, welche die Geschichten dreier jüdischer Geflüchteter in der Schweiz zur Zeit des Nationalsozialismus zusammenführt. An der Buchvernissage Ende September im Foyer des Landesmuseums Zürich gab der Schweizer Autor erste Hörproben aus dem Leben der drei Hauptfiguren.

Von Jacqueline Kalberer
4. Oktober 2022

Akten als Ausgangspunkt der Erzählung

Während der Lesung wird schnell klar, dass Hardegger in Für einen Pass und etwas Leben seinem Stil treu geblieben ist und seine Erzählung auf gründlicher Recherchearbeit beruht. So wird die Lesung eingeleitet durch einen Auszug aus dem realen Curriculum Vitae der Fanny Schulthess-Hirsch, vorgetragen von der Schauspielerin Catriona Guggenbühl. Erst danach übernimmt Hardegger das Vorlesen und gewährt den gespannten Zuhörerinnen und Zuhörern Einblick in die Gedanken und Träume, in die Beziehungskonflikte und alltäglichen Erlebnisse der fiktionalisierten Fanny. Auch im weiteren Verlauf wechseln sich Guggenbühl und Hardegger mit Vorlesen ab und schaffen damit eine klare Trennung von realen Akten und Fiktion.

Zum Autor

Urs Hardegger, geb. 1957, wuchs im Zürcher Limmattal auf. Studium der Erziehungswissenschaften und Sonderpädagogik an der Universität Zürich. Danach arbeitete Hardegger als Primarlehrer und Schulleiter.
Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Historische Bildungsforschung und Dozent an Pädagogischen Hochschulen. 2017 veröffentlichte er mit «Es gilt die Tat» seinen ersten Roman. Hardegger ist heute als freischaffender Publizist, Dozent und Buchautor tätig und lebt in Zürich.
Foto: © Donat Markus Bräm

Blick hinter die Kulissen

Hardegger hält fest, dass es ihm wichtig ist, die Geflüchteten selbst zu Wort kommen zu lassen. Dafür ist die dialogische Gestaltung der Lesung bestens geeignet. Sie erlaubt es, den Geflüchteten mit Guggenbühl tatsächlich eine eigene Stimme zu geben. Ausserdem gewährt die Struktur der Lesung den Zuhörer*innen einen Einblick in den Entstehungsprozess des Romans. Die unmittelbare Abfolge von Selbstbeschreibungen der Geflüchteten in realen Akten und fiktiven Erzählungen zeigt deutlich, welche Anknüpfungspunkte Hardegger verwendet, welche historisch belegten Umstände er ausgeschmückt hat und wie er Überlieferungen mit seinem eigenen Stil einfärbt.

Betroffenes Schweigen

In seinem Roman findet Hardegger klare Worte für die schwierigen Lebensbedingungen, mit denen sich die jüdischen Geflüchteten in der Schweiz zur Zeit des Nationalsozialismus konfrontiert sahen. Mit einem ernsten, punktuell auch witzigen und insgesamt gefühlvollen Vortrag vermitteln Hardegger und Guggenbühl sowohl die Angst der Hauptfiguren um ihre Familienmitglieder im Ausland als auch den nervenaufreibenden Kampf mit den Schweizer Behörden. Entsprechend betroffen zeigt sich das Publikum. Die absolute Stille im Foyer des Landesmuseums wird selbst bei humoristischen Szenen nur von verhaltenem Lachen durchbrochen. Dass die Zuhörerschaft nicht aus Langeweile schweigt, sondern tief bewegt ist, zeigt denn auch der langanhaltende Applaus am Ende der Veranstaltung.

Was den Gästen der Lesung selbst überlassen bleibt, ist eine Kontextualisierung des Gehörten. Die Lokalität bietet hierfür einen Ausgangspunkt, da die Veranstaltung im Rahmen der Ausstellung Anne Frank und die Schweiz des Landesmuseums Zürich stattfindet. Wer jedoch auf einen Bezug zur gegenwärtigen politischen Lage in Europa hofft, muss diesen selbst herstellen. Weder die Lesung noch die Ausstellung thematisieren naheliegende Parallelen zu aktuellen Schicksalen von Menschen auf der Flucht.

Urs Hardegger: Für einen Pass und etwas Leben. 256 Seiten. Zürich: Nagel & Kimche 2022, ca. 40 Franken.

Die Ausstellung «Anne Frank und die Schweiz» ist noch bis zum 6.11.22 im Landesmuseum Zürich zu sehen.

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