KW41

Von abgefuckten Underground-Blutbuchen und verborgenen Mütterstammbäumen

Das Romandebüt «Blutbuch» von Kim de l’Horizon ist ein Sprachtornado – Verschlungen, durchgenudelt und wieder ausgespuckt reibt man sich die Augen. Ein Text, der verwandelt und verwundert.

Von Severin Lanfranconi
11. Oktober 2022

Non-Binarität: Der fehlende Körper?

Im autofiktionalen Roman Blutbuch ist Kim, die non-binäre Erzählfigur, sechsundzwanzig Jahre alt, als deren Grossmutter an Demenz erkrankt. Ihr schwindendes Erinnerungsvermögen macht Kim bewusst, wie zu vieles in deren Familie ungesagt und ungeklärt ist, als dass es sich überhaupt als kohärente Familiengeschichte erzählen liesse. Warum hat Kim kaum Kindheitserinnerungen? Woher kommt die Angst, woher das Gefühl, über keinen eigenen Körper zu verfügen? Und wie liesse sich überhaupt über all diese Dinge sprechen? In fünf Romanteilen und auf immer wieder neuen Denk- und Erfahrungswegen sucht die Erzählfigur nach der eigenen Vergangenheit, will über sich selbst und die persönliche Herkunft im grösseren Zusammenhang eine Form von Gewissheit erlangen.

Zur Person

Kim de l'Horizon, aufgewachsen in Ostermundingen (Bern), studierte Literaturwissenschaften und Geschichte in Zürich, Literarisches Schreiben in Biel und Transdisziplinarität an der ZHdK. In der Spielzeit 21/22 war Kim Hausautorj an den Bühnen Bern. Mit «Blutbuch» legt Kim ein vielbeachtetes Romandebüt vor, das mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung honoriert wurde und sowohl für den Schweizer Buchpreis als auch für den Deutschen Buchpreis 2022 nominiert ist.
Foto: © Anne Morgenstern

Das Mutter-Meer und die écriture fluide

Im ersten Teil Die Suche nach Schwemmgut sammelt Kim die bruchstückartigen Erinnerungen, Erzählungen und die dialektalen Sprechweisen deren Familie. In Kims Imagination erscheinen immer wieder die Mutter und insbesondere die Grossmutter. Die Mütter bilden überhaupt das fundamentale Rudiment für diesen Roman, die «Meeren», wie sie auf Berndeutsch heissen: «Die Liebe der Meeren war so gross […], mensch schwimmt ein Leben lang, um aus den Meeren herauszukommen.» Bei solchen wunderschönen Sätzen sieht man die Mütter als fliessende, unendlich tiefe Gewässer, als erhabene, behütende aber auch unheimliche Ozeane. Dies ist nur eines von vielen Beispielen sprachlicher Ambiguitäten, die Kim in der Auseinandersetzung immer wieder sucht und nutzt, mal sprachkritisch reflektierend, mal tastend intuitiv und körperlich, mal poetisch und fabulierend. Auch an eine Blutbuche im Garten der Eltern mag sich Kim noch gut erinnern.

Spiralpoetik

Im zweiten Teil wird das «Schwemmmaterial» zur Basis einer märchenhaften und Mythos stiftenden Wieder-Neu-Erzählung von Kims Kindheit. Im Zentrum: Eine magische Blutbuche, die sich mit dem Körper eines Kindes vermengt, fliessend wie Wasser, wie jenes der Meeren und doch ganz anders. Durch die miterlebbare Produktionsästhetik des literarischen Wieder-, Über- und Neu-Schreibens entsteht ein ebenso spiralförmiges Lesen. Die fünf Romanteile reihen sich so weniger in linearer Erzählung, als dass sie sich über- und untereinander schichten, sich dabei wechselseitig mit Bild- und Klangassoziationen zu einer immer dichteren Metaphorik anreichern.

Von der abgefuckten Underground-Blutbuche zu den verborgenen Mütterstammbäumen

Was im zweiten Teil noch riskiert, sich ganz einer hermetischen Fantastik hinzugeben, schlägt in den letzten drei Romanteilen hart am Boden des alltäglichen Wahnsinns auf. Kim wird eines Tages auf offener Strasse krankenhausreif geschlagen. Kim erzählt von deren Porno-Konsum, von der machoiden Schwulen-Subkultur der 2000er-Jahre und recherchiert die nationalistische bis nationalsozialistische Kulturgeschichte der Blutbuche. Kim nutzt die Grindr-App ausgiebig und auch das endet mal mehr mal weniger in Hardcore. Die oft expliziten, drastischen und vital-poetischen Darstellungen decken schmerzvoll auf, wie die offiziellen Markierungen sozialer Ungleichheiten in den gesellschaftlich tabuisierten Bereichen von Pornografie, Lust und Ekel stets wiederkehren. Neben der patriarchalen Negativitätsspirale erlebter und ausgeübter Rassismen und Sexismen taucht an Kims Wegrand jedoch ein Fund auf, der in eine alternative Richtung zeigt. Kim entdeckt Mutters heimliche Ahnenforschung über ihre weiblichen Vorfahren, ein Stammbaum der Mütter. Nicht zuletzt durch den Bruch mit der Stammhalter-Logik gelingt es Kim, sich mit den Meeren zu versöhnen.

Ein virtuoses, wirklichkeitsnahes Debüt, das berührt und begeistert

Blutbuch von Kim de l’Horizon ist so gut recherchiert wie Bärfuss’ Koala, wagt den Sex so explizit wie Roches Feuchtgebiete, schraubt sich unerschrocken in ästhetizistische Höhen und mutet auch Ungereimtheiten kompromisslos zu. Bei der Lektüre begegnet man einem sich unerbittlich enthüllenden Ich, das bei aller Sprachvirtuosität seine eigenen Unzulänglichkeiten nicht schönt. Das bestärkt die Intuition über diese sonderbare Prozesshaftigkeit der eigenen Identität, die nur so lange Findung sein kann, wie sie Suche sein darf.

Kim de l’Horizon: Blutbuch. 336 Seiten. Köln: DuMont 2022, ca. 35 Franken.

Weitere Bücher