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Grässliche Gastfreundschaft

Mit ihrem Debütroman «Die Aufdrängung» öffnet Ariane Koch ein Spannungsfeld zwischen einem unbekannten Gast und seiner Wirtin. Aus dem kalkulierten Zusammenschluss von düsterer Atmosphäre und komischen Einlagen gelingt der Autorin eine groteske Erzählung, die ihre Sinnangebote spielerisch in der Schwebe zu halten versteht.

Von Sari Pamer
14. Februar 2022

Die Ich-Erzählerin nennt sich selbst böse und undankbar und stellt sich als Urenkelin eines wahnsinnigen Sektenführers vor. Sie trifft einen Fremden, der eine Unterkunft zu suchen scheint. Die Protagonistin nimmt diesen bei sich als Gast auf, denn sie bewohnt nur neun von zehn Zimmern ihres heruntergekommenen Elternhauses. Dort bewohnt der Gast das Zimmer zusammen mit unzähligen kaputten Staubsaugern. Die Geschichte spielt in einer viel zu kleinen Schweizer Stadt im Schatten eines dreieckigen Berges. Die Bewohner:innen der Kleinstadt fristen ihr Dasein auf Sofas, die stellvertretend für das Träge stehen. Bereits wenn der Fremde mit einer Matratze mit lachsfarbenem Überzug durch die Strassen läuft, um bei der Erzählerin einzuziehen, wird klar, dass der Roman im Reich des Phantastischen angesiedelt ist. Der Gast ist möglicherweise nur ein Hirngespinst der jungen Frau, die sich jemanden an ihrer Seite wünscht.

Zur Autorin

Ariane Koch, geb. 1988 in Basel, Studium der Bildenden Kunst und Interdisziplinarität. Sie schreibt Theater- und Performancetexte, Hörspiele und Prosa. Kochs Stücke und Performances wurden auf internationalen Bühnen gespielt und ausgezeichnet. Ihr Romandebüt «Die Aufdrängung» (2021) wurde mit dem aspekte-Literaturpreis 2021 und dem Schweizer Literaturpreis 2022 ausgezeichnet.
Foto: © Heike Steinweg

Düstere Stimmung

Die Erzählerin hasst die Kleinstadt und sehnt sich schon seit Jahren danach, diese zu verlassen. Weggehen wolle sie, doch die beste Rache sei immer noch, niemals wegzugehen, sondern immer nur so zu tun. Trotz dem Hass gegenüber der Stadt fürchtet die junge Frau irgendwann von ihrer eigenen Familie aus ihrem Haus fortgejagt zu werden. Diese Angst, Rache und der Selbsthass bilden die Grundstimmung, welche gekonnt mit komischen Sequenzen durchbrochen wird. Etwa wenn die Bewohner:innen der Stadt sich einen Staubsauger nach dem anderen kaufen und diese der Reihe nach der Staubmasse erliegen, bis sie schliesslich kaputt gehen. Die defekten Geräte stehen nutzlos herum und hin und wieder recken sie schnüffelnd die Rüssel. Die absurde Komik überdeckt die Apathie und das trübe Ambiente immer wieder gekonnt.

Grausame Geselligkeit

Auf diese unbehagliche Nachbarschaft trifft der gutmütige Gast, der seiner Wirtin bald auf Schritt und Tritt folgt. Zuerst Gast, dann Gefangener sitzt er in der Falle, wo er schikaniert, beschuldigt und sogar körperlich misshandelt wird. Der Roman schildert auf kleinem Raum das Ungeheuerliche. Scheinbar hält die Erzählerin den Gast im viel zu grossen Haus fest – er selbst kommt jedoch nicht zu Wort, sondern verändert seine Gestalt immer mehr zum Tier und erinnert damit an Kafkas Gregor Samsa. Unter dem Blick der Erzählerin wird er immer grösser und präsenter, seine Extremitäten breiten sich in alle Räume aus. Koch spielt mit Gegensätzen und Widersprüchen auf der Figurenebene und erzeugt damit Spannung im Text. In warmen Worten und grotesken Schilderungen wird die Brutalität einer gewalttätigen Aufdrängung und die manipulative Beziehung genial beschrieben.

Widerspruch

Während der Nacht plagt die Erzählerin das schlechte Gewissen, sie ahnt Unrecht getan zu haben. Doch wenn sie Traumata erwähnt, dann nur die des Gastes. Traumata betreffen nur die anderen, aber nie sie selbst. Auch die Machtfantasien werden von der Untätigkeit der Protagonistin konterkariert. Im Allgemeinen sitzt sie nur herum und schaut zu, wie ihr Gast das Haus in Beschlag nimmt. Das Groteske macht jedoch verdrängte Wahrheiten sichtbar und eröffnet immer wieder neue Lesarten, welche stets auf gesellschaftlich normierte Bewertungsmuster und Ausweichmanöver verweisen. Der Gast und die Erzählerin stehen sich gegenüber in einem Spannungsfeld der manipulativen Beziehung. Dieses Oszillieren zwischen Gast und Wirtin birgt eine Bandbreite von Interpretationsansätzen, ohne sich in einem von ihnen zu erschöpfen – und das macht die Grösse des Romans aus.

Ariane Koch: Die Aufdrängung. 179 Seiten. Berlin: Suhrkamp 2021, ca. 20 Franken.

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