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Ecstasy gegen die Geister

Flurin Jeckers zweiter Roman «Ultraviolett» erzählt vom Taumeln durch die Nacht und von der Auseinandersetzung mit den eigenen Erinnerungen und Lebensplänen.

Von Jana Bersorger
6. Februar 2022

Ein junger Mann namens Held hangelt sich von Rave zu Rave, von Pille zu Pille durch das nächtliche Berlin, bis die sonderbare Mira seinen Weg kreuzt. Sie fordert ihn heraus und scheut sich nicht, ihn bisweilen abblitzen zu lassen. Vor allem aber hat Mira immer einen Plan – etwas, das Held gänzlich fremd ist. Der Wunsch nach einer Beziehung mit Mira wirft Held auf seine eigene Geschichte zurück, auf die «Geister», die ihn nach Berlin getrieben haben. Im Drogenrausch, aber auch auf einer Reise zur Mutter in die Schweiz wird langsam klar, dass Held noch immer unter seinem abwesenden Vater leidet. Zurück in Berlin setzt er alles daran, sich selbst «ein guter Vater» zu sein und sein Leben in den Griff zu bekommen. Das hat er bisher nämlich immer nach anderen ausgerichtet – besonders nach seinem verstorbenen Freund Eule.  

Zum Autor

Flurin Jecker, 1990 in Bern geboren, studierte Biologie, bevor er 2013 das Studium in Literarischem Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel begann. Daneben schrieb er als freier Journalist für «Der Bund». Bekanntheit erlangte er nicht zuletzt durch das von ihm betriebene Blog. 2017 debütierte er mit seinem Roman «Lanz», für den er mehrfach ausgezeichnet wurde. «Ultraviolett» (2021) ist sein zweiter Roman. Jecker unterrichtet Workshops zum Literarischen Schreiben und lebt als freier Schriftsteller.
Foto: © Janis Maus Marti

Im Schreibrausch

Das postadoleszente Straucheln, die Konfrontation eigener Lebenspläne mit fremden, bringt Flurin Jecker überzeugend auf den Punkt. Die Auflösung dieser Fragen und Probleme bleibt aber unterkomplex: Der fehlende Vater muss als stereotypes Motiv für sämtliche Probleme Helds herhalten. Und auch wenn Ultraviolett sicher nicht den Anspruch hat, philosophisch tiefschürfende Erkenntnisse zu präsentieren, dürften die gesammelten Kalendersprüche am Ende selbst jüngere Leser:innen stark unterfordern. Dass man dieser dünnen Story doch mehrheitlich gern folgt, liegt an der besonderen Form. Was wir erfahren, erfahren wir aus Helds Briefen: Er schreibt an Eule, an Mira und zuletzt an sich selbst. Einzelne Briefe lassen sich jedoch nicht ausmachen, es ist eher ein Strom an Geschriebenem, das sich Held von der Seele schreibt. Während die ersten Zeilen holperig sind, findet Held immer mehr in den Schreibprozess. Schliesslich hilft ihm das Schreiben sogar gegen die Geister und dient als zeitweiliger Drogenersatz. 

Zur Sprache gekommen

An diesem soghaften Rausch vermag Jecker die Leser:innen teilhaben zu lassen, und darin besteht die Stärke seines Romans. Durchaus geschickt haushaltet Jecker auch mit der Spannung: Einiges verklausuliert Held in seinen Briefen, zu manchem muss er auch erst selbst durchdringen, so dass es trotz der betont simplen Oberfläche immer mal wieder etwas zwischen den Zeilen zu lesen gibt. Psychologisch plausibel herausgearbeitet ist auch die sprachliche Entwicklung: Syntax und Wortwahl sind zu Beginn noch roh und ungeschliffen. Im Verlauf des Buches entwickelt Held einen eigenständigeren Sound, der zwar nach wie vor mündlich geprägt ist, aber über das unbeholfene Stottern der ersten Seiten hinauskommt. Dieses Zur-Sprache-Kommen erinnert an Jeckers 2017 erschienenen Erstling Lanz, der als Blog eines 14-Jährigen daherkam und seiner ebenfalls eher dünnen Geschichte sprachlich überzeugend unter die Arme griff. Im Vergleich zu Lanz wirkt Ultraviolett in puncto Sound aber gereift, weniger anstrengend und angestrengt. Dass Jecker «mehr kann» als Jugendsprache, wird an der durchkomponierten sprachlichen Entwicklung Helds deutlich. Wer von einem Roman nicht die Welt erwartet, sondern sich mit einem kleinen Ausschnitt begnügt, darf sich auf eine kurzweilige Lektüre freuen, die einen tief in das Erleben und Empfinden Helds hineinzieht. 

Flurin Jecker: Ultraviolett. 224 Seiten. Innsbruck: Haymon 2021, ca. 32 Franken.

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