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In den Fängen des Vaters

Die Walliserin Sarah Jollien-Fardel zeigt in ihrem Debütroman «Lieblingstochter» die psychischen Abgründe, in die Opfer von häuslicher Gewalt gestürzt werden. Das Buch erzählt aber auch von der Weigerung, sich ein Leben lang von solchen Erfahrungen definieren zu lassen.

Von Isabelle Hausmann

Lieblingstochter ist aus der Perspektive der jungen Jeanne erzählt, die zusammen mit Mutter, Vater und ihrer vier Jahre älteren Schwester in einem Walliser Bergdorf aufwächst. Die drei Frauen leiden stark unter der körperlichen und seelischen Gewalt des Vaters, eines Cholerikers mit sadistischen Zügen. Als Jeanne für ihr Studium nach Lausanne zieht, schafft sie zwar räumliche Distanz zwischen sich und ihrem Elternhaus. Dennoch ist ihr restliches Leben von dem Versuch gezeichnet, sich von der traumatischen Kindheit zu emanzipieren. Für Männer interessiert sie sich lange Zeit nicht, fühlt sich sexuell zu Frauen hingezogen. Dabei führt sie väterliche Muster fort, wenn sie ihre erste Liebe Charlotte während eines Streits schlägt oder fremdgeht.

Zur Autorin

Sarah Jollien-Fardel, geboren 1971 in Sion (VS), ist Journalistin und Chefredakteurin des Buchhändlermagazins «Aimer lire». 2022 debütierte Sie literarisch mit ihrem vielbeachteten Roman «Lieblingstochter» (frz. «Sa préférée»), der u.a. mit dem Prix du Roman Fnac und dem Choix Goncourt de la Suisse 2022 ausgezeichnet wurde. Jollien-Fardel lebt mit ihrer Familie im Wallis.
Foto: © Marie-Pierre Cravedi

Schlagkraft der unverblümten Erzählung

Mit Lieblingstochter veröffentlicht Sarah Jollien-Fardel ihr Romandebüt und geht geradewegs durch die Decke. Im August 2022 auf Französisch unter dem Titel Sa préférée erschienen, gewinnt Jollien-Fardel kurz darauf den französischen Buchpreis Prix Fnac und wird für den Prix Goncourt, den bedeutendsten Buchpreis Frankreichs, nominiert. Die 51-jährige Autorin ist wie ihre Protagonistin im Wallis aufgewachsen. Nun ist ihr Roman auf Deutsch erschienen – und überzeugt mit seiner sprachlichen Wucht.

In Jeannes Familie ist die patriarchale Gewalt allgegenwärtig. Mit kurzen Sätzen und schnörkelloser Sprache beschreibt Jollien-Fardel die Wutausbrüche des Vaters, was den Schilderungen eine Nüchternheit verleiht, die teilweise kaum auszuhalten ist. Das «Klatschen des Gürtels» nimmt man fast selbst körperlich wahr, die rohen Sätze, welche die unberechenbare Gewalt schildern, beschwören diesen täglichen Albtraum herauf. Der/die Leser:in muss beispielsweise Zeuge/-in davon werden, wie Jeannes Vater die Katze von Schwester Emma vor ihren Augen ertränkt. Von diesen Gewaltexzessen erfährt man durch Rückblenden, welche die Gegenwartserzählung immer wieder unterbrechen. Dem/der Leser/-in wird somit die Dringlichkeit dieser Erfahrungen bewusst und die Unmöglichkeit, eine solche Kindheit gänzlich abzuschütteln.

Kindersehnsüchte

Im Gegensatz zu ihrer Schwester und Mutter bleibt Jeanne als Kind meistens von den Schlägen des Vaters verschont. Nur ein einziges Mal prügelt er sie bis zur Ohnmacht, als sich die damals Achtjährige aufmüpfig benimmt. Dass sich der Vater ihr gegenüber zurückhält, interpretiert Jeanne als Funken der Zuneigung oder zumindest des Respekts ihr gegenüber. Sie sieht sich als etwas Besonderes. Doch auch ihre Schwester sieht sich vom Vater bevorzugt behandelt, und zwar auf groteske Weise durch seine sexuellen Übergriffe. Beide Kinder reklamieren den Titel «Lieblingstochter» für sich. Auf subtile Weise arbeitet Jollien-Fardel hier heraus, wie das Verlangen der Kinder danach geliebt zu werden, die Grausamkeit des einen Elternteils übertüncht.

Für Jeanne ist das Leben vom Kampf geprägt, die traumatischen Ereignisse hinter sich zu lassen. Wütend wehrt sie sich gegen die unsichtbaren Fänge des Vaters, die sie umklammert halten. Umso enttäuschender ist das Ende, das unvermittelt kommt und den/die Leser/-in ratlos, ja fast verzweifelt zurücklässt: Jeanne sieht nur im Selbstmord einen Ausweg. Versöhnung sucht man vergeblich. Fast fühlt man sich als Leser:in betrogen, denn der Roman handelt vom Befreiungskampf – und diesen Kampf verliert Jeanne. Zu pathetisch ist dieser Schluss und richtig verstehen kann man Jeannes Entscheid nicht, denn er steht im Widerspruch zu ihrer Kämpfernatur. Schlussendlich wirkt er auch etwas feige, da sich die junge Frau so nicht mit den Vorwürfen ihrer Lebenspartnerin und der komplizierten Affäre mit einem Arbeitskollegen auseinandersetzen muss.

Nebst dem Versuch sich zu befreien, geht es in dem Roman aber auch um Herkunft und Wurzeln. Die ambivalenten Gefühle für den Kanton Wallis spiegeln sich in der Beschreibung der erbarmungslosen Felslandschaft und den fruchtbaren, lieblichen Tälern. Ein verhasster und zugleich geliebter Ort, der schlussendlich Heimat bleibt. Die Autorin weiss Verbindungen, die nicht zu kappen sind – sei es zu einem geografischen Ort oder zum Elternhaus – zu beschreiben. Vor zwei Jahren verbrannte Sarah Jollien-Fardel fast alle ihre unveröffentlichten Manuskripte, aus persönlichen Gründen, wie sie sagt. Gut, hat sie die Lieblingstochter verschont.

Sarah Jollien-Fardel: Lieblingstochter. Übers. v. Theresa Benkert. 221 Seiten. Berlin: Aufbau Verlag 2023, ca. 34 Franken.