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Was es heisst, Du zu sagen

In ihrem Lyrikband «Gottesanbieterin» nimmt Nora Gomringer die Begegnung mit einer Mantis zum Ausgangspunkt für eine Poesie, die in leisen Tönen und szenischen Miniaturen die Rätselhaftigkeit des ewigen Gegenübers umkreist.

Von Sebastien Fanzun
15. Februar 2021

Auf dem chromsilbernen Einband strecken sich ein kürzeres, gefaltetes, und ein längeres, fast gestrecktes Insektenbein zueinander aus, ohne sich zu berühren –wie in Michelangelos berühmter Darstellung die Hand Adams und der Arm Gottes; nur handelt es sich hier um zwei tintenschwarze, nichtmenschliche Gliedmassen. Dieses filigrane Lauern auf silberglänzendem Grund ist ein kühnes Bild, und es passt zu den Gedichten, die Nora Gomringer unter dem Titel Gottesanbieterin versammelt hat. Der Titel bezieht sich – auch – auf eine «einstündige Begegnung […] mit einer Gottesanbeterin» (ohne i!), die für Gomringer ein Anlass war, so der Klappentext, «Fragen an ihren Glauben und die Vielgestaltigkeit von Religion» zu stellen – und dieses «Angebot und Nachfragen» literarisch zu verhandeln.

Was kommt heraus bei der lyrischen Allianz mit der Gottesanb(i)eterin? Neunundvierzig mehrheitlich kurze, mehrheitlich ungereimte Gedichte. Es gibt den gelegentlichen Reim, geschenkt: Er reicht von klassisch (Haus/aus, spricht/Licht) über spannend (Adressat/Vater) bis zu gespreizt («doch dann ist die Verbindung unterbr / […] / so nun sind wir ganz gebr») – gebündelt zu fünf separat betitelten Abschnitten. Gedichte, die auf den ersten Blick ein wenig leiser wirken als der popkulturell geschliffene Performance-Sound, den etwa Monster Poems (2013) prägte. Aber wie für die Grashalmstille einer lauernden Gottesanbeterin gilt auch hier: Die Ruhe täuscht. Der sanfte Gesprächston und der spielerische Wechsel der Motive tarnen ein radikal monomanisches, geradezu obsessives poetisches Interesse – das dem «Du» gilt. Während die Motive changieren, bleibt dieses Interesse unverändert und liefert der Sammlung den roten Faden, der sich durch die verschiedenen Gedichte zieht.

In manchen Gedichten wird das Du explizit zum Thema: «Des Vaters erstes Wort an dich war ‹Du›». In anderen – wie etwa in «Wir tindern uns» – löst es sich gegen Gedichtende aus einem harmonischen «Wir» und markiert einen plötzlichen Abstand: «und / einer fragt wie hältst dus mit der Kommunion / und einer denkt: / Sex ginge anders». Gelegentlich wird es für die Dauer ganzer Gedichte unsichtbar und lässt nur seine – emotionalen und grammatikalischen – Effekte zurück («weißt nicht zu deuten / gehst nah heran / streckst deine Glieder»).

Zur Person

Nora Gomringer, geboren 1980 in Neunkirchen/Saar, lebt heute in Bamberg. Studium der Anglistik, Germanistik und Kunstgeschichte in Bamberg. Als freie Schriftstellerin arbeitet Gomringer seit 2000. Ihr literarisches Schaffen umfasst Lyrik, Essays und Prosatexte sowie Opern- und Hörprojekte. Ausserdem ist Gomringer als Performerin und Spoken-Word-Künstlerin tätig. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen gewürdigt, u.a. mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis (2015). Seit 2010 leitet sie das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia als Direktorin. «Gottesanbieterin» ist Gomringers 10. Lyrikband.
Foto: © Judith Kinitz

In einem der besten Gedichte der Sammlung, einer brillanten und rabiaten Überschreibung von Heines Sie saßen und tranken am Teetisch (selbst im Original ein grossartiges Beispiel für ein lyrisches Ich, das überfallartig mit einem «Du» hervorplatzt), schiesst das Du so aggressiv und gnadenlos aus den Zeilen wie die zwei Greifarme einer Gottesanbeterin: «Sie aßen und tranken am Teetisch / Am Tische war noch ein Kindersitz. / Mein Liebchen, da hast du gefehlt! / Du hättest so eindringlich, mein Schätzchen, / von deiner Abtreibung erzählt».

Wir begegnen dem Du in einer Fülle von Miniaturen: etwa dem Dating, wo dem Du die Aufgabe zukommt, eine gemeinsame Zukunft herzustellen; dem Verlust, wo das Du die Aufgabe übernimmt, die Grenze zwischen Leben und Tod zu überbrücken; und, eben, Religion, wo das Du, nicht unähnlich der Datingsituation, die unmögliche Aufgabe auf sich nehmen darf, etwas anzusprechen, was bei allen Vorannahmen noch völlig unbestimmt ist. Indem Gomringer derart die Frage danach, was es bedeutet, Du zu sagen, in ein Kaleidoskop von Situationen aufsplittert, gelingt ihr eine Literatur, die gleichzeitig abwechslungsreich ist und dicht; gelingen Gedichte, die so subtil bedrohlich sind wie – eben – eine Gottesanbeterin.

Nora Gomringer: Gottesanbieterin. 96 Seiten. Berlin: Voland & Quist 2019, ca. 26 Franken.