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«Als Schriftstellerin habe ich die Freiheit, bei jedem Gedanken auch ganz anders abzubiegen.»

janovjak

Ein Gespräch mit Mireille Zindel über die Perversion der Selbstvermarktung, künstlerischen Ehrgeiz und den Rhythmus des Schreibens

Von Bigna Hauser
26. Januar 2021

Wir sitzen hier bei Ihnen zu Hause, Frau Zindel, wie sieht ein Arbeitstag im Leben einer Schweizer Schriftstellerin aus?
Ich bringe die Kinder in die Schule, mache einen Spaziergang auf dem Heimweg und dann sitze ich hin. Ab diesem Moment habe ich sieben Stunden Zeit für meine Arbeit. Meine Schreibzeit ist bis mittags, da bin ich produktiv. Am Nachmittag lese und redigiere ich dann. Ich kürze sehr viel, da ich viel mehr Text produziere als ich am Schluss verwende. Ja, und das wiederhole ich von Montag bis Freitag.

Lenkt Sie das Lesen am Nachmittag nicht vom eigenen Schreiben ab?
Es gibt ein Buch, an dem ich schon mehrere Jahre arbeite. Da lenkt mich nicht ab, was ich daneben lese. Beim aktuellen Buch «Die Zone», das jetzt dann im August 21 erscheint, da war es anders. Ich hatte einen totalen Tunnelblick, habe das Buch in kurzer Zeit, also drei oder vier Monate, geschrieben. Daneben habe ich ausnahmsweise gar nichts anderes gelesen oder gemacht. Ich war so konzentriert auf diesen einen Text. Ich bin jeden Tag hingesessen, hab immer die gleiche Musik gehört – und dann habe ich geschrieben. Aber ich glaube, generell gilt: Wenn ich schreibe, bin ich so konzentriert, dass mich die Melodien und Rhythmen der anderen Bücher nicht von meinem eigenen ablenken.

Was können Sie vom neuen Buch «Die Zone» schon verraten?
Neu ist für ein Buch von mir, dass es jetzt ein männlicher Protagonist ist, und es ist ein hybrider Text. Es hat lyrische Passagen drin, die Tempo machen. Es ist experimenteller, auch thematisch. Der Protagonist ist ein Apnoetaucher. Vor Jahren habe ich einen Zeitungsartikel gelesen über eine Apnoetaucherin, die bei einem Routinetauchgang auf nur 30 Meter verschollen ist. Sie ist einfach nicht mehr aufgetaucht. Das hat mich offenbar irgendwie beschäftigt. Ich habe den Artikel auf einer Pinnwand aufgehängt und vermeintlich vergessen, aber vielleicht doch immer irgendwie im Hinterkopf gehabt. Als ich dann mit meinem anderen Buch nicht weitergekommen bin, sprachlich aber schon ganz Vieles ausprobiert hatte und immer noch das Gefühl hatte, die richtige Perspektive und Form noch nicht gefunden zu haben, da habe ich es weggelegt. Und dann ist dafür der Apnoetaucher aufgetaucht.

Zur Person

Mireille Zindel, 1973 in Baden geboren, lebt in Zürich. Nach einem Studium der Germanistik und Romanistik an der Universität Zürich arbeitete Zindel als Werbetexterin und Journalistin. Als Schriftstellerin debütierte sie 2008 mit dem Roman «Irrgast» und erhielt dafür den Preis der Literaturperle (art-tv.ch). «Die Zone» ist Zindels vierter Roman.

Was hat Sie an diesem Taucher interessiert?
Die Obsession. Das hat mich ja auch schon in meinen anderen Büchern beschäftigt. Und um Apnoetaucher zu sein, braucht es sowohl sportlich als auch psychologisch eine gewisse obsessive Ader. Interessant an der Figur ist, dass sie selbst, wie ich beim Schreiben, einen gewissen Tunnelblick hat – und das schlug sich dann auch wieder auf die Form des Textes nieder.

Gestaltungsformen beim Schreiben interessieren Sie. Bauen Sie das geplant in Ihre Texte ein?
Im Gegenteil. Ich nehme mir eigentlich gar nichts vor. Ich bin überhaupt keine Reissbrett-Autorin. Ich habe eigentlich im Voraus keine Ahnung, was ich mache. Es geschieht alles sehr intuitiv. Während der Arbeit merke ich dann, ob es Fleisch am Knochen hat oder nicht, ob es kürzest, etwas länger oder gar ganz lang wird und welches die Form sein muss. Ich bin beim Schreiben für alles offen. Ich merke erst im Schreibprozess drin, wohin der Weg gehen könnte. Und dann beginne ich immer wieder von vorne und beginne zu komprimieren. Wenn es reine geplante Fleissarbeit wäre, wäre es mir zu langweilig. Was mir Spass macht, ist ja, selbst etwas zu entdecken, etwas ans Licht zu bringen, etwas auszugraben und auszuprobieren und zum Klingen zu bringen.

Sprechen wir noch über «Bald wärmer». Das ist ein Text, den sie über den Tod Ihrer Tochter geschrieben haben. Dazu haben Sie mal gesagt: «Ich wollte ihn so objektiv wie möglich erzählen.» Was bedeutet hier objektiv?
«Bald wärmer» ist ein durch und durch autobiografischer Text. Das ist alles so passiert: Der Tod, die Krankheit, die Trauer, die Gedanken in der Folgezeit – das habe ich versucht aufzuschreiben. Und ich habe versucht, dabei nicht nur um mich selbst zu kreisen, eher Selbstreflexion zu betreiben, die allgemeingültig wird. Durch Objektivität, Distanz, viel Recherche. Ich musste mir einen sehr grossen Abstand verschaffen, um die Geschichte zu erzählen. Ich habe sechs Jahre gewartet. Die Facts, die mussten stimmen. Es sollte nicht larmoyant werden, es sollte so radikal und schonungslos, ohne Banalitäten und Klischees erzählt werden. So wie es halt ist, wenn man mit dem Tod konfrontiert wird.

Sind Fiktionalisierungen trotzdem nötig, weil beispielsweise auch ihr Ehemann oder Ärztinnen darin vorkommen oder es manchmal einfach zu persönlich ist?
Nein, ich habe alles so erzählt, wie es war. Bei meinen Romanen ist das hingegen anders: Ich erfinde meine Romane. Auf die Frage, was die Romane mit meinem Leben zu tun haben, kann ich nur antworten: «Alles und nichts.» Kein Roman ist möglich, ohne das persönliche Erfahren, Empfinden, Fühlen und Gefühlt-Haben der Person, die ihn verfasst hat. Das ist sowieso klar. Aber kein Roman ist Polizeirapport dessen, was «tatsächlich» geschieht und geschehen ist. Sonst wäre er überflüssig.

Wenn man Ihren Roman «Kreuzfahrt» liest, sollte man sich als Leserin also nicht die Frage stellen, ob Sie selbst eine Affäre mit ihrem Nachbarn hatten?
Mir ist klar, dass solche Fragen auftauchen, gleichzeitig sind sie auch irgendwie störend. Meine Romanfiguren heissen ja auch nicht Mireille Zindel. In einem Roman kann ich mir als Autorin eigentlich alles erlauben. Wenn hingegen die Realität den Text vorgibt, geht es nur noch darum, ihn zu formen. Bei einem Roman ist das ganz anders, da kann ich bei jedem Gedanken auch ganz anders abbiegen.

Anders gefragt: Wie wird aus einem ganz autobiografischen Text Literatur? Was unterscheidet ihn von einem Tagebucheintrag?
Ein Tagebucheintrag, auch wenn ich selbst kein Tagebuch führe, ist für mich etwas Unmittelbares, das wenig Abstraktionsebene drin hat. Literatur bedingt einen gewissen Abstraktionsprozess. Ausserdem: Ich bin oft auf dem Friedhof – die Gräber, die Reihen füllen sich. Literatur kann einen wichtigen Beitrag leisten, gerade weil es dabei nicht alleine um die eigene Psychohygiene geht. Als meine Tochter gestorben ist, habe ich mit dem Gedanken gespielt, Medizin zu studieren, damit ich anderen helfen kann. Irgendwann wurde mir aber klar, dass auch Geschichten helfen. Literatur kann vielleicht keine Leben messbar retten, aber sie kann Gutes tun und Tröstendes kann darin enthalten sein. Ich bin Schriftstellerin, also erzähle ich meine Geschichte.

Wenn «Bald wärmer» nicht nur in Auszügen, sondern wie geplant als Buch erscheint, wird dort «Roman» auf dem Deckel stehen – trotz den wahren Begebenheiten. Können sich Lesende so überhaupt noch orientieren, wann sie Fiktion und wann sie Autobiografisches vor sich haben?
Im englischsprachigen Raum sind solche Hybride schon viel länger Usus. Im deutschsprachigen Raum ist man gegenüber solchen Texten eher kritisch. Es wird immer eine Nabelschau vermutet. Aber ich glaube, das beginnt sich jetzt zu ändern, die Menschen beginnen sich zu öffnen. Es entstehen ganz viele verschiedenen Formen von Texten.

Sie haben Germanistik studiert. Macht man das, um Schriftstellerin zu werden?
Ich schreibe, seit ich etwa 13 bin. Schriftstellerin zu werden, war immer mein Wunsch. Ich habe Germanistik studiert, um mir ein möglichst breites Wissen in Sachen Literatur anzueignen oder anders gesagt: weil mich Literatur einfach interessiert. Mir war aber bewusst, dass ich alles wieder vergessen muss, wenn es ums Schreiben geht. Das sind zwei verschiedene Dinge: Schreiben und Literaturwissenschaft. Ich will ja nicht dauernd die Schere im Kopf haben und mich selbst analysieren. Ich habe mich immer schreibend in so einer Art Atelier mit rotem Plüschsofa gesehen. Ich bin so oder so stark beeinflusst von Bildern, auch beim Schreiben. Weil mir alle gesagt haben «Vergiss es!» habe ich neben der Germanistik auch noch Romanistik studiert, um gegebenenfalls als Lehrerin arbeiten und mir das Schriftstellerinnen-Dasein finanzieren zu können. Dann hatte ich aber die Chance, als Werbetexterin zu arbeiten und habe so mein Geld verdient. Je länger, je mehr habe ich die Werbung zurückgefahren, um mehr Zeit zum Schreiben zu haben.

Sie haben mal gesagt: «Vom Schreiben leben zu können, ist keine Entscheidung und schon gar nicht deine.» Wer kann es aus Ihrer Sicht heutzutage überhaupt noch wagen, Schriftstellerin oder Schriftsteller werden zu wollen?
Alle sollten das wagen! Wenn ich auf alle gehört hätte, dann hätte ich nie eine Zeile geschrieben. Dass man davon leben kann, das kann man natürlich niemandem versprechen. T.C. Boyle hat hier im Kaufleuten in Zürich mal angehenden Autorinnen und Autoren Folgendes geraten: Make sure, you have wealthy parents. Im übertragenen Sinn: irgendwoher muss das Geld schon kommen.

Sie wollten immer Schriftstellerin werden – und sind es jetzt auch geworden. Sie sehen jetzt hinter die Kulissen des Literaturbetriebs. Ist es so, wie Sie es sich erträumt haben?
Nun, ich habe am Literaturbetrieb nie richtig teilgenommen. Kurz nach dem Erscheinen meines ersten Buchs «Irrgast» ist meine Tochter gestorben. Da konnte ich nicht mehr mittun. Kurz nach Erscheinen meines zweiten Buchs «Laura Theiler» ist mein Sohn auf die Welt gekommen, auch da konnte ich dann nicht mehr teilnehmen. Hinzu kommt, dass ich schüchtern und zurückhaltend bin. Am liebsten wäre ich die Schriftstellerin, die nur schreibt, aber nie irgendwo selbst auftritt. Aber ich habe gemerkt, dass das so nicht funktioniert. Es braucht Präsenz.

Sie haben selbst als Werbetexterin gearbeitet. Was mögen Sie konkret nicht daran, wenn es um Werbung für ihre Bücher geht?
Ich bin wie gesagt schüchtern, ich stehe nicht gerne vor die Leute hin. Als der «Literarischer Monat» mir eine Kolumne angeboten hat, habe ich vorgeschlagen, dort über die Selbstvermarktung einer Schriftstellerin zu schreiben, obschon ich ja wirklich die denkbar ungeeignetste Person dafür bin.

Sie haben selbstgesteuerte Werbemassnahmen dort mal pervers genannt, weil es einer Künstlerin eigentlich um die Kunst an sich gehe – wenn da nicht der Ehrgeiz wäre. Was haben Sie damit gemeint?
Wenn ich Bücher schreibe, dann investiere ich wirklich alles. Aber dann, wenn es draussen ist, dann kommt es mir plötzlich komisch vor, darüber zu reden. Im August kommt mein neues Buch «Die Zone» – und je näher, dass dieser Termin rückt, umso mehr verstumme ich. Da bin ich sehr unprofessionell. Und gleichzeitig, und das ist der Ehrgeiz, will ich ja, dass mein Buch gelesen wird. Klar will ich das. Und dazu gehört vermutlich halt auch Werbung. Aber sehr gerne mache ich es nicht.

Mit Werbung ist ja vor allem auch die Präsenz auf Social Media gemeint. Kommt man als Autorin nicht mehr ohne diese Plattformen aus?
So ist mein Eindruck. Ich sollte, aber ich will eigentlich nicht. Eigentlich fühle ich mich nur auf meiner Webseite frei, weil ich dort auch keine anzüglichen Nachrichten und Ähnliches bekomme. Ich finde den Spagat, den Autoren meistern müssen, nicht immer ganz leicht. Dieselbe Person, die im einsamen Kämmerlein monate-, ja jahrelang an einem Buch schreibt, muss bei Erscheinung des Buches zur öffentlichen Person werden, die auf der Bühne steht. Aber das ist nun mal so.

Ich habe mir Ihr Instagram-Profil angeschaut. Es sieht nicht danach aus, als ob Sie mit der Selbstvermarktung inzwischen unbedingt warm geworden wären.
Meine tiefste Überzeugung ist ja eigentlich: je weniger davon, je besser! Ich sehe meine Aufgabe darin, Bücher zu schreiben. Den ganzen Rest kann ich nicht beeinflussen. Aber natürlich verstehe ich auch, dass der Verlag will, dass ich so was mache. Denn man kann dadurch Leute erreichen. Und ich würde eigentlich auch gerne den Leuten, die meine Bücher mögen, irgendwie etwas zeigen von mir, das sie interessiert. Aber mir ist schlicht nicht klar, was das sein soll – abgesehen von Informationen zu Veranstaltungen und Lesungen. Denn eigentlich gefällt mir ja das Soziale an Social Media. Manchmal poste ich dann ein Foto von mir, um einfach mal Hallo zu sagen. Dann frage ich mich im Anschluss direkt wieder, ob das jetzt nicht komplett falsch rüberkommt, als selbstverliebtes Selfie. Und dann mache ich wieder nichts. Und authentisch muss es sein. Wenn etwas nicht authentisch ist, dann ist das doch der grösste Killer. In Sachen Social Media habe ich einfach noch keine eigene Handschrift, die muss ich unbedingt noch entwickeln. Jetzt wäre eigentlich ein guter Moment dafür.

Das Gespräch führte Bigna Hauser.

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