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Die Unordnung eines ganzen Lebens

Dragica Holzner

In ihrem ersten Roman erzählt Dragica Rajčić Holzner von dem leidvollen Leben einer Frau, die von einem Unglück ins nächste flüchtet.

Von Oliver Camenzind
8. Februar 2021

Es ist das Jahr 1975 in Split, Jugoslawien. Eine junge Frau fährt in die Stadt, um eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Der Arzt empfängt die Patientin in seinem Wohnzimmer, denn im Spital, aber auch sonst, soll niemand von dem Eingriff erfahren. Das Blut und das, was sich zu einem Embryo ausgewachsen hätte, landen in einem metallenen Kübel. Das Geld legt der Arzt unter die schwarze Vase auf dem Esstisch, und die Frau, die eigentlich selbst noch ein Kind ist, geht ihres Weges: von Medikamenten benommen, aber tief erleichtert. Ana Jagoda ist dem schlimmsten Schicksal gerade noch entkommen. Als junge Mutter auf dem Land wäre sie verloren gewesen, so, wie schon ihre Mutter und ihre Grossmutter verloren gewesen waren. Vater des Kindes wäre ein Cousin der Mutter geworden, eine Schande; eine solche Schande, dass nicht nur Anas Ehre irreparabel beschädigt gewesen wäre. Sie hatte sogar zu befürchten, von ihrem eigenen Vater totgeschlagen zu werden.

Wir ahnen bald: In Anas Heimatdorf, das Glück genannt wird, ist das Leben alles andere als idyllisch. Die Welt, von der Dragica Rajčić Holzner in ihrem ersten Roman Liebe um Liebe erzählt, ist vielmehr gezeichnet von bitterer Armut und Gewalt, besonders an Frauen. Diese hüten auf dem Land die Schafe und träumen abends von einem angenehmeren Leben, während die Männer sich betrinken. Steht ein Fest an, müssen Kleider ausgeliehen werden, für die Kinder gibt es vor dem Schlafengehen häufiger eine ordentliche Tracht Prügel als etwas Anständiges zu essen. Vergewaltigungen sind dabei keine Seltenheit, auch der Mann von der Kirche, Don Lilo, vergreift sich an den Brüsten der Protagonistin, als diese noch das Gymnasium besucht. Nicht wenige im Dorf nehmen sich vor lauter Trostlosigkeit das Leben. Wenig überraschend, eigentlich.

Kein Wunder, dass Ana Jagoda so fest entschlossen ist, die Geschichte ihrer weiblichen Vorfahren nicht zu wiederholen und das Dorfleben hinter sich zu lassen. Mit 17 – sie weiss schon, dass sie schwanger ist – verliebt sie sich in den Erstbesten und geht mit ihm nach Split, in die erstbeste Stadt. Aber dort läuft es auch nicht viel besser: Igor hat zwar eine Arbeit, doch das Geld reicht nur für ein ärmliches Leben in einer stinkenden Wohnung. Die beiden sind der Armut nicht weit entronnen, weswegen sie den Entschluss fassen, Jugoslawien hinter sich zu lassen und in die USA zu flüchten.

Zur Person

Dragica Rajčić Holzner, geboren 1959 in Split, lebt als Autorin und Dozierende für literarisches Schreiben in Zürich und Innsbruck. Rajčić Holzner schreibt Gedichte, Kurzprosa und Theaterstücke und hat zahlreiche Bücher publiziert, zuletzt «Warten auf Broch» und «Buch von Glück». Sie wurde unter anderem mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis und dem Lyrikpreis Meran ausgezeichnet.
Foto: © Ayşe Yavas

Bis ins Detail

Dragica Rajčić Holzner, die Autorin mit kroatischen Wurzeln, hat bisher vor allem mit Gedichten auf sich aufmerksam gemacht, und ihre reiche Erfahrung mit lyrischen Texten kommt ihr auch bei ihrem ersten grossen Prosaprojekt spürbar zugute. Ihre Sprache ist sehr dicht und enorm detailreich, so detailreich sogar, dass sie einen zunächst glauben macht, es handle sich bei Liebe um Liebe um einen autobiographischen Text. Inhaltlich lässt sich dies jedoch nicht erhärten. Durch diese ausserordentliche Genauigkeit gelingt es Rajčić, auf nicht einmal 170 Seiten das facettenreiche Porträt einer jungen Frau entstehen zu lassen und anhand dieser intimen Biographie eine Existenz nachzuzeichnen, wie es die jugoslawische Gesellschaft zu jener Zeit zahlreich hervorgebracht haben dürfte. Das Leben jener Frauen, das zeigt uns Rajčić deutlich, war nicht von grossen Träumen geleitet, sondern einzig von dem Ziel, irgendwie durchzukommen, irgendwie zu überleben.

Traumatisiertes Erzählen

Rajčić hat ihren Roman so konstruiert, dass er Ana Jagodas Lebensgeschichte in vielen kleinen Episoden erzählt, die zum Teil mit einem Datum überschrieben sind und nur einen einzigen Tag umfassen: wie bei einem Tagebuch. Dass diese Episoden bruchstückhaft erzählt werden, irritiert zunächst, hat, aufs Ganze gesehen, aber durchaus System. Einerseits lässt sich an Rajčićs Umgang mit Form und Inhalt die Schulung an ihren früheren lyrischen Arbeiten ablesen. Andererseits ist es die poetologische Konsequenz, die sich für das Erzählen einer Biographie ergibt, das geprägt ist von Bruchstellen und Verletzungen, die nie ganz ausheilen können. Dieses Chaos aus ungezählten Kämpfen, aus Niederlagen und Neuanfängen gibt eben keinen klassischen Romanstoff ab, sondern fordert sein narratives Äquivalent in einem traumatischen Erzählen.

Warum sind diese Menschen so kaputt, möchte man wissen. Was treibt sie in die Alkoholsucht, was macht sie zu Vergewaltigern und Schlägern? Darüber möchte man gerne mehr wissen, aber Rajčić wendet sich diesem Thema erst gegen Ende des Romans und nur kurz zu. In einer Art Schreibtherapie versucht sich die Erzählerin in die Lage ihrer Mitmenschen zu versetzen und dadurch deren Motive besser zu verstehen. Das gelingt ihr aber nur bedingt: Als Gründe für Igors Trunksucht und seine Tendenz zur Gewalttätigkeit zieht sie nur mangelndes männliches Selbstwertgefühl und den frühen Tod der Mutter in Betracht. Das ist in psychologischer Hinsicht nicht gerade überzeugend. Und dass die Schreibtherapie dann trotzdem ihre Wirkung zu zeigen scheint, freut zwar die literaturbeflissenen Leser*innen, wirkt aber ebenfalls eher nicht so plausibel.

Die Ungewissheit ist das Traurigste

Das offene Ende kann einen aber schon wenig später über diese kurze Schwachstelle des insgesamt sehr gelungenen Buchs hinwegsehen lassen. Wenn völlig offenbleibt, wie Anas Geschichte ausgeht, dann scheint Rajčić ohne viele Worte anzudeuten: Hier kann alles endlich ganz anders werden, so wie Ana es sich immer gewünscht hat. Genauso kann das Unglück aber auch wieder von vorne beginnen. Diese Möglichkeit vermag einen nachhaltig traurig zu stimmen. Und die subtile Art und Weise, wie Rajčić sie ins Spiel bringt, ist grosse Klasse.

Dragica Rajčić Holzner: Liebe um Liebe. 167 Seiten. Berlin: Matthes & Seitz 2020, ca. 27 Franken.