KW43

Spiel mit dem Ungreifbaren

Elisa Shua Dusapin

Während die deutschsprachigen Feuilletons sich noch für den Winter in Sokcho begeistern, hat Elisa Shua Dusapin mit Les Billes du Pachinko bereits den nächsten Roman vorgelegt. Erneut begibt sie sich dabei in ein faszinierendes Spiel zwischen europäischer und asiatischer Kulturalität.

Von Valentin Kolly
24. Oktober 2018

«Pachinko ist ein kollektives und einsames Spiel. Die Automaten stehen in langen Reihen. Jeder der Spieler, die da aufrecht vor ihren Tafeln stehen, spielt für sich, ohne seinen Nachbarn anzusehen, mit dem er gleichwohl auf Tuchfühlung steht.» Roland Barthes: Das Reich der Zeichen. Übers. v. Michael Bischoff Frankfurt a.M. 1981, S. 43.

«Kollektiv und einsam», mit diesem – scheinbar paradoxen – Gegensatz beschreibt Barthes in Das Reich der Zeichen den Pachinko, eine Art japanischen Flipper. Mit demselben Gegensatz – als Motto – eröffnet Elisa Shua Dusapin Les Billes du Pachinko, ihren zweiten Roman, der Ende August bei Éditions Zoé erschienen ist. Kollektiv und einsam, zwei Begriffe, so weit voneinander entfernt und einander doch so nah. Maurice Blanchot sagte einst, Einsamkeit existiere nur durch sich selbst aufgelöst und setze den Einsamen dem vielfältigen Draussen aus; Les Billes du Pachinko knüpft an diesen Gedanken an. Claire, die Erzählerin, hat zwei Staatsangehörigkeiten: Sie ist Schweizerin und Koreanerin – Bürgerin eines Korea, das ihr indessen vollkommen unbekannt ist. Ihre Grosseltern wurden dort geboren, doch auch sie kennen es nicht besser. Im Krieg sind sie nach Japan geflohen, haben es verlassen, es vergessen. Claire hat sich zum Ziel gesetzt, mit ihnen dorthin zu reisen. Sie fliegt nach Japan und kümmert sich um Mieko, ein junges Mädchen, dem sie Französisch beibringt, während sie ihre Grosseltern zu überzeugen versucht, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen.

Zur Autorin

Elisa Shua Dusapin, geboren 1992, wuchs als Tochter eines französischen Vaters und einer südkoreanischen Mutter in Paris, Séoul und Porrentruy auf. Sie hat am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel studiert. 2018 erschien in deutscher Übersetzung ihr Romandebüt «Ein Winter in Sokcho», für das sie u. a. den Robert-Walser-Preis 2016 erhalten hat.
Foto: © Yvonne Böhler

Mit Claires Ankunft in Japan beginnt eine Erzählung der Unnahbarkeit, des fortwährenden Zusammenstosses des Gewohnten mit dem vielfach Fremden, der sich in der Andersartigkeit auflösenden Identität. Claire glaubt noch, sie beherrsche die Sprache, kenne die Kultur; stattdessen steht sie einer doppelten Unbekannten gegenüber. Nach und nach entwickelt sich eine Poetik des Ungreifbaren, die Nahes fern und Verständliches unverständlich erscheinen lässt. Das Ungreifbare, das ist dieser Rauch, dieser Nebel, diese allgegenwärtige Unbestimmtheit. Das ist «dieser Dunst, der den Horizont verdeckt», das sind «die Umrisse der Wohnung, die ebenfalls verblassen». Das Ungreifbare ist aber auch dieses kleine Fenster, welches nur einen begrenzten Zugang zur Welt eröffnet: «Die ganzen Leute, von denen das Fenster meines Zimmers einzig die Beine zeigt. Ich würde gerne ihr Gesicht sehen.»Im Zentrum dieser Poetik steht der Pachinko – von den Koreanern erfunden, denen man den Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrte, aber ein nicht wegzudenkender Bestandteil einer ausschliesslich japanischen Kultur. Er wird zu einer Metapher für das von vorneherein paradox erscheinende Fremde, er verkehrt die Werte. Während die Spieler zu Tieren werden wie «dieser Mann, der sich am Pachinko festklammert, gleich einer Zecke an ihrem Wirt», werden die Automaten vermenschlicht, erregen geradezu Mitleid, «wenn man sie unermüdlich ihre Metallkugeln ausspucken sieht.»

Dusapins Roman erklärt sich – im Gegensatz zu Barthes – die Undurchdringlichkeit des Pachinko als Berührungspunkt von Fremdem und Gewohntem. Dem unverständlichen Zeichen stellt sie eine ganze Sammlung von Spielen gegenüber, die, allgegenwärtig, einer nahezu sinnlosen Realität einen Sinn verleihen sollen. Das Tetris auf ihrem Telefon hilft Claire, sich in eine ungewöhnliche Raumgestaltung hineinzudenken. Das Monopoly in Schweizer Ausgabe hat ihrer Mutter ermöglicht, «ihren Eltern einen Eindruck von dem Land, in dem wir leben, zu vermitteln». Die Playmobil-Figuren schliesslich eröffnen ihrer Grossmutter einen Weg, sich an einen anderen Ort zu versetzen, ihrem Leben zu entkommen, sich vielleicht ein bewohnbares Land auszumalen.

Das sind sie also, Les Billes du Pachinko. Ein hundertvierzigseitiges Spiel. Ein Spiel, um den Nebel zu lichten. Ein Spiel, um das Fenster zu öffnen, seinen Kopf hindurchzustrecken und die Welt zu sehen. Ein Spiel, in dem sich die Menschen – unnahbar und undurchschaubar – in Figuren verwandeln, in Miniaturpuppen, mit denen man interagieren kann. Es lässt das verhüllte, maskierte, gleichnishafte Japan weniger bedrohlich wirken, versöhnlicher. Das Fremde jedoch, was auch immer man darüber sagen mag, was auch immer man daraus macht, bleibt fremd. Unter dem Schleier des Scheinbaren, den Claire anfertigt und unaufhörlich ausbessert, bleibt dieser mächtige Kern des Wirklichen, Harten, Dunklen, Unveränderlichen: der Pachinko. «Ich wollte dir Pachinko-Kugeln mitbringen. Aber sie sind schwer. Dreckig. Glaub mir, es lohnt sich nicht. Ich schwör‘s dir. Sie sind anders, als du sie dir vorstellst. Es sind keine Spielzeuge.»

 

Elisa Shua Dusapin: Les Billes du Pachinko. 144 Seiten. Genève: Éditions Zoé 2018, ca. 22 CHF.   In deutscher Übersetzung erschien bereits: Elisa Shua Dusapin: Ein Winter in Sokcho. Aus dem Französischen von Andreas Jandl. Berlin: Blumenbar 2018.

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