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Magischer Hospitalismus

Vincenzo Todisco

Vincenzo Todiscos «Das Eidechsenkind» ist weit mehr als literarisierte Schweizer Sozialgeschichte. Der Roman kehrt zurück zu den Wurzeln, an denen sich Hospitalismus und Fantastik kreuzen - auch wenn ihm leider manchmal zuviel Humanität dazwischenkommt.

Von Philipp Theisohn
21. Oktober 2018

Natürlich wird dieser Text von den Klischees bedroht, die ihn umstellen. Der Roman eines in den 1960ern geborenen Secondos über das Heranwachsen eines italienischen Kindes in der Heimlichkeit der Schweizer 1960er und 70er; der oberflächlich sehr deutliche Bezug zum Migrationsthema; der erste deutschsprachige Roman eines in der italienischsprachigen Literatur durchaus etablierten Autors. Der Erstzugriff auf Das Eidechsenkind wird immer der über Autobiographie und helvetische Zeitgeschichte bleiben, so scheint es – und damit verkauft man diesen Text ebensosehr unter Wert wie dies auch etwa im Fall von Joseph Incardonas Permis C geschehen ist.

Züchtung

Tatsächlich geht Todiscos Roman nämlich an den offensichtlichsten Plotangeboten vorbei. Schnell löst er sich von den eingefahrenen, irgendwie immer dialektisch angelegten Narrativen zwischen Heimat, Fremde, fremder Heimat und heimatlicher Fremde. Statt dessen setzt er gezielt auf Deformation: Das Eidechsenkind ist keine sentimentalische Kindheitserzählung, sondern die Geschichte einer Züchtung, wie man sie aus dem Superheldenkosmos kennt. Eine entmenschlichende Erziehung – ein Kind wird jahrelang gezwungen, für alle Aussenstehenden unsichtbar zu bleiben, um die Aufenthaltsgenehmigung des Vaters nicht zu gefährden – schlägt um in eine animalische Sonderbegabung. «Es kann den Atem mehr als eine Minute lang anhalten, bei Kälte und Hitze die Tränen niederkämpfen, ein bis zwei Tage ohne Wasser und Nahrung auskommen»; überdies kann es aber auch blitzschnell verschwinden, auf Schränke klettern und sich in versteckten Winkeln ‹einnisten›.

Zum Autor

Vincenzo Todisco, 1964 als Sohn italienischer Einwanderer in Stans geboren, studierte Romanistik in Zürich und lebt heute als Autor und Dozent in Rhäzüns. Für sein literarisches Schaffen wurde er 2005 mit dem Bündner Literaturpreis ausgezeichnet. Im Rotpunktverlag liegen seine Romane in deutscher Übersetzung vor; «Das Eidechsenkind» ist seine erste Buchveröffentlichung auf Deutsch.
Foto: © Momir Cavic

Der hospitalistische Blick

Nach und nach wird hier ein Geschöpf geformt, dessen übermenschlicher Grad an Adaptionsfähigkeit nebst einem feingestimmten Sensorium es befähigen, sämtliche Vorgänge in der es umgebenden Mietskasernenwelt zu registrieren, ohne sich zeigen zu müssen. Mit anderen Worten: Ein perfektes Erzählmedium. Getragen wird Das Eidechsenkind dabei von der Magie des Hospitalismus, der in ähnlicher Weise auch bereits Julia Webers Immer ist alles schön verfallen war. Aus dem öffentlichen Diskurs war der Hospitalismus irgendwann Anfang der 90er, vermutlich zeitgleich mit Peter Sehrs verschenkter Kaspar Hauser-Verfilmung verschwunden. Seine literarische Wiederkehr spricht auch für das aufkeimende Bewusstsein einer Überinstitutionalisierung, der organisatorischen wie sprichwörtlichen Überbauung des Lebens. Zugleich künden solche Texte natürlich auch immer von einer notwendigen Transformation unseres Blicks: Die Welt, die ihre Bewohner in Eidechsen verwandelt, erscheint im hospitalistischen Erzählen selbst wiederum in Verwandlung. All jene Instanzen, die das Sozialgefüge kontrollieren, welches die 60er «Gastarbeiter» nannten, zeigen sich durch die Augen der Eidechse als fabelhaft-monströse Gestalten. Angefangen bei den hilflos-haltlosen Eltern, die sich und dem Kind immer wieder das Königreich eines Hauses in Italien versprechen (das natürlich niemals fertig werden kann), über den sich zum Padrone aufschwingenden, in seiner Grossspurigkeit allerdings vollends lächerlichen Baufirmenchef Jakob Dühr bis hin zum skurrilen Hausmeister-Ehepaar Alfons und Rosi Beeri – letztere (die «Capitana») eine kettenrauchende, kinderschreckende, am Ende aber vollends vernichtete Autorität – und ihren Pudel Blacky, der über seinen nom de guerre «Kuschdohära» zum heimlichen Fixpunkt einer animalisierten Kindheit wird.

Das Haus der sonderbaren Kinder

Es wäre ein Leichtes gewesen, diesen Roman in eine Geschichte der Sonderlinge, der prekären Kindergemeinschaften zu verwandeln. Das Personal dafür gibt er her: den infolge seiner Adipositas ebenfalls aus dem sozialen Raum verstossenen Carlos, den rätselhaften «kalten Jungen» und die von ihrem Alkoholikervater tyrannisierte Emmy, die als einzige den Weg nach draussen finden wird – nachdem sie die adoleszente Eidechse mit ihrem Sexualtrieb vertraut gemacht hat. Gleichwohl bleibt dies eine Gemeinschaft in Stille, eine Gemeinschaft zuschauender Monstren, die sich in ihrer Zurichtung wechselseitig erkennen. Wenn gegen Ende des Romans davon die Rede ist, dass die Arbeitskollegen des Vaters die Existenz des Kindes mittlerweile umstandlos hinnehmen, da sie auch «von anderen Kindern» wissen, «die versteckt werden», so verbirgt sich dahinter mehr als ein Kapitel dunkler Sozialgeschichte. Die bestialisierte Kindheit (die dort am deutlichsten zum Ausdruck gelangt, wo das Kind selbst ans Töten geht, Mäuse zerquetscht und den Pudel quält) avanciert bei Todisco vielmehr zu einer Allegorie der Secondo-Existenz als einer irreversiblen Traumatisierung

Der Schatten der Humanität

In seiner Radikalität ist das ein seltenes und faszinierendes Stück Literatur und seine Schwächen liegen deswegen auch da, wo es sich dieser Radikalität begibt, sich dem humanistischen Kommentar zuwendet. Dass es in dieser Welt irgendwo auch die Guten, die Verständigen geben muss, darf erwartet werden. Dass dies dann aber immer auch diejenigen sein müssen, die das Licht der Kunst in den Wohnblock werfen, die geigespielende Schwester des Chefs und der pensionierte Lehrer, der dem Kind seine Bibliothek hinterlässt – das ist dann nicht nur zuviel des Klischees, sondern erscheint mit Blick auf die Gesamtanlage des Romans geradezu widersinnig. Die Utopie, die Das Eidechsenkind evoziert, kann nur in der Affirmation des Nachmenschlichen gesucht werden, denn in der liegt die Grösse dieser Kreatur, die Grösse dieses Textes. Wer ihr mit geistigen Verwerfungen wie Saint-Exupérys Le petit prince kommt, der verdient vollauf, von ihm gefressen zu werden.

Vincenzo Todisco: Das Eidechsenkind. 214 Seiten. Zürich: Rotpunktverlag 2018, 28 Franken.

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