KW18

Spurensicherung

Jurczok

Nach zwanzig Jahren Bühnenpräsenz erscheint das erste Buch des Spoken Beats-Pioniers Jurczok 1001. Dass hinter seinen gefeierten, mühelos vom Lässigen ins Sakrale gleitenden Auftritten akribisch entwickelte Choreographien stehen, konnte Jurczoks stetig wachsendes Publikum bislang nur ahnen. Auf 81 sorgsam kuratierten Faksimiles bühnenerprobter Textblätter lässt sich nun nachvollziehen, wie einer der versiertesten Schweizer Poeten seine Formen zur Sprache kommen lässt.

Von Christoph Steier
30. April 2018

1998. Zwei Treffen, drei Stories

Dass Jurczoks erstes Buch in der renommierten Edition Patrick Frey erscheint, die sich seit ihrer Gründung um eine je individuelle, aus dem Sujet heraus entwickelte  Gestaltung ihrer Kunstbücher verdient gemacht hat, kommt dem Projekt gleich doppelt zugute: Erstens hat der Verleger die Grösse, das Material weitestgehend für sich sprechen zu lassen und die grafische Gestaltung auf ein Minimum zu reduzieren. Das Ergebnis ist ein erst auf den zweiten Blick hochwertig gearbeitetes Textbook, das bewusst eher an Probebühnen als an Coffee Tables erinnert. Zweitens stiftet die Kollaboration von Jurczok und Frey eine gute Geschichte. Genauer gesagt deren zwei: Während sich der Performer im Vorwort an das erste Zusammentreffen der beiden am Zürcher Theater Spektakel 1998 erinnert, erzählt sein Verleger bei der Vernissage im Zürcher Kulturzentrum Kosmos eine etwas andere Geschichte.

Zum Autor

Jurczok 1001, mit bürgerlichem Namen Roland Jurczok, geb. 1974 in Wädenswil (ZH). Jurczok erwarb das Lehrerdiplom für Atemtechnik und Stimmbildung und studierte Germanistik und Ethnologie in Zürich. Er ist Spoken Word-Künstler und Sänger und gehört zu den Spoken Word-Pionieren der Schweiz. Seit 1996 tritt er unter dem Namen Jurczok 1001 auf und war an zahlreichen internationalen Festivals zu Gast – solo oder seit 1998 im Duo mit Melinda Nadj Abonji. Seine Performance «Spoken Beats» zeigte er u.a. in Berlin, Moskau, Mumbai, New York und Philadelphia. Er lebt in Zürich.
Foto: © Shirana Shahbazi

Doch ganz gleich, ob als einsame menschliche Beatbox am Bahnhof Enge oder als Entertainer zwischen Glasnudelessern an der Landiwiese, im Kern ist es dieselbe Geschichte: Von einem der auszog, seine eigene Stimme zu finden. Und damit bis heute für sich steht. Klingt lahm, ist in Jurczoks Fall jedoch die angemessenste Formel. Deren Wurzeln ebenfalls auf das Jahr 1998 zurückgehen. Damals traf Jurczok, wie er im Vorwort schreibt, Ernst Jandl in Wien. Eine zweite folgenreiche Begegnung, die anders als die Begegnung mit Frey nicht erst 20 Jahre später Früchte tragen sollte: So hatte Jurczok sich zwar bereits Mitte der 1990er Jahre von seinen MTV-Rap-Ambitionen verabschiedet und unter dem Eindruck der Debatte um die sogenannten «nachrichtenlosen Vermögen» jüdischer NS-Opfer eine deutschsprachige CD produziert. Doch erst die Begegnung mit Jandl lehrte ihn, dass allein «das Zulassen der richtigen Form zählt» und er sich keinesfalls «durch bestehende Formen definieren und beschränken lassen» müsse. Aus dem vermeintlichen Manko, sich «nicht einmal zwischen Literatur und Musik entscheiden» zu können, wurde daraufhin das unterdessen zwei Dekaden währende Projekt, die eigenen Formen kommen zu lassen. Fest stand und steht für Jurczok dabei nur, dass sie auf die Bühne kommen sollen. Diesen Weg haben sie genommen, und wer bis hierher nur Bahnhof versteht, macht sich auf Jurczoks Plattform Masterplanet am besten erstmal mit einigen Höhepunkten seines bisherigen Schaffens vertraut. Vom hypnotischen Agglo-Choral «Bahnhof» über die konzise entlarvenden Köppel-Persiflagen «D’ Wältwoche» oder «Scheinbevölkerung» bis zum Minidrama um Elke Heidenreichs erfundenes Heidegger-Zitat steht dort eine Fülle an beeindruckendem Material bereit. Zum Weiterlesen eignen sich dann Jurczoks eigene Ausführungen im Vorwort zu Spoken Beats, vor allem aber die Laudatio seiner langjährigen Bühnenpartnerin Melinda Nadj Abonji, die dem Buch als Nachwort beigegeben ist.

2008-2018. Ein Körper, drei Gesten

An den nun veröffentlichten Textblättern aus der zweiten Dekade von Jurczoks Schaffen, Partituren im besten Sinne, lässt sich (zumindest für mit Jurczoks bisherigem Werk Vertraute) auf ästhetisch durchaus eigenwertige  Weise nachvollziehen, dass die die Spur der Schrift für Jurczok weder blosse Vorarbeit noch hilfreicher Spickzettel, sondern genuines Medium ist. Ein Medium im starken Sinne aber zeichnet aus, dass man sich in ihm bewegt, anstatt es, wie etwa einen Apparat oder Code, nur zu benutzen. Und so steht am Ende der Lektüre von Spoken Beats die nicht nur für Literaturpreisjurys relevante Einsicht, dass Jurczok selbst dort, wo er auf der Bühne ganz bei sich, bei seinen Worten zu sein scheint, den Raum der Schrift nie völlig verlässt. Dass dieser nie stumm, laut-los gewesen ist, hat Jurczok im Gegensatz zur handelsüblichen Scrabble-Poesie der Gegenwart nicht vergessen, und so kreuzen sich in der dreifachen Geste der Schrift, der Gebärde und der Stimme in seiner Performance drei Dimensionen des Zeichens, die lediglich im Spartenbetrieb der aktuellen Literaturverwaltung auseinanderdividiert werden. So wird beispielsweise auch beim diesjährigen Wettlesen in Klagenfurt wieder schmallippig darauf geachtet werden, sich nicht zu sehr vom Vortrag «blenden» zu lassen, obwohl doch, wenn überhaupt, gerade darin der Mehrwert der Übertragung besteht. Derlei dürfte Jurczok nur (be-)kümmern, wenn es um die jährlichen Stipendienbewerbungen geht, seine Kunst ist dem Lichtjahre voraus. Weil sie sich gar nicht erst von der immer schon ins Werk gesetzten Dreifaltigkeit jeder Sprachgeste entfernt hat.

2018ff. Ein Werk, viele Wege

Der Charakter einer Spurensicherung ist Jurczoks Buch deutlich eingeschrieben. Das reicht von indexikalischen Erinnerungsspuren wie Schlieren, Flecken oder schlecht angespitzten Buntstiften über schüchterne Selbstregieanweisungen («Nähe aufbauen», «keine Reaktion erwarten», «Text lernen») bis zu heillos überfrachteten, teils unlesbaren Korrekturdurchläufen, die Arbeitsprozesse zugleich abbilden und der Nachvollziehbarkeit entziehen. Zum gängigen materialästhetischen Fetischismus hält das Buch indes einen erfrischenden Abstand, macht doch jedes der Blätter deutlich, dass es lediglich einen Ausschnitt aus einer längeren Reihe, work in progress eben, darstellt. Die Frage nach der Eigenständigkeit dieses Kunstbuches im besten Sinne, die Frage also nach der Möglichkeit seiner kontextlosen Lektüre sieht sich dadurch in ähnlicher Richtung beantwortet: Einen ästhetischen Wert an sich behaupten diese Textblätter eher nicht; wer Jurczok nicht live oder wenigstens online hat performen sehen, dürfte dem Konvolut eher als Kuriosität begegnen. Cy Twombly zumindest war hier nicht am Werk, allerdings: zum Glück. Denn das, was diese Blätter offenhalten, nicht mitliefern können und wollen, ist letztlich nichts anderes als jener Hallraum, in dem sich die audiovisuellen Erinnerungsspuren an Jurczoks Performances im lesenden Gedächtnis zu loopen beginnen. Kein nachgereichtes Buch zum Film freilich, wird doch umgekehrt die Kenntnis dieser Textblätter den Besuch künftiger Spoken Beats-Performances im positiven Sinne überschatten. Den Raum der Schrift hat Jurczok, nochmals, nie völlig verlassen. Mit diesem Buch hat er ihn seinen Zuschauerinnen und Zuhörern nicht nur weit geöffnet, sondern das sichtbare Archiv dessen, was in seinen Arbeiten immer schon am Werk gewesen ist, um einige gewichtige Spuren erweitert. Da die Spuren von morgen für diesen aussergewöhnlichen Performer keine erledigten Asservate, sondern die Loops von morgen sind, zieht Spoken Beats keineswegs einfach Bilanz. Sondern spurt zugleich vor für die nächsten zehn, zwanzig Jahre, case not closed.

Jurczok 1001: Spoken Beats. Zürich: Patrick Frey 2018, 112 S., ca. 42 CHF.

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