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«Ermittlungsarbeit ist Wahrheit finden.» – Oder vielleicht doch nicht?

Ursula Haslers neuer Roman «Die schiere Wahrheit» nimmt es gleich mit zwei Grössen der Weltliteratur auf: Friedrich Glauser und Georges Simenon. Sie lässt die beiden 1937 in einem französischen Badeort aufeinandertreffen, wo sie über das Schreiben und Kriminalgeschichten sprechen, um dann ad hoc eine solche gemeinsam erfinden. Wir nahmen die kühne Romananlage zum Anlass, mit der Autorin einige der ganz grossen Fragen der Literatur anzugehen.

Von Redaktion
29. August 2022

Frau Hasler, mir ist aufgefallen, dass Sie sowohl in Ihrem ersten Roman Blindgänger wie auch hier in Die schiere Wahrheit nie nur eine Geschichte erzählen, sondern auch verschiedene Binnenerzählungen einbauen. Entwickeln sich diese Geschichten in der Geschichte während des Schreibprozesses oder beginnen Sie jeweils bereits mit einem Geschichtenkonglomerat im Kopf?

Das Geschichtenkonglomerat ergab sich aus der Konstruktion. Bei Blindgänger stand am Anfang die Idee, während eines Sabbaticals eine linguistische Arbeit über den Zusammenhang zwischen Erinnerungen und Sprache zu schreiben. Der Schwerpunkt sollte darauf liegen, wie sehr sich Erinnerungen durch ihr Erzählen und Niederschreiben, das heisst durch das Verbalisieren, verändern. Dann kam irgendwann die Idee und Lust auf, dieses Thema nicht als wissenschaftliche Arbeit, sondern in Form eines Romanes umzusetzen. Die Hauptfigur leidet nach einem Sturz unter einer Amnesie, und weil es um Erinnerungen ging, brauchte ich etwas aus der Vergangenheit. Das Sabbatical verbrachte ich in Royan am französischen Atlantik, auch Ort der Romanhandlung, es gibt dort eine umfangreiche Dokumentation der Geschichte der Stadt während des Zweiten Weltkrieges. Mich interessierte immer, wie damals der Alltag in den besetzten französischen Dörfern aussah. Daraus entstand die Binnengeschichte, die durch ein Manuskript im Buch integriert ist.

Bei Die schiere Wahrheit war eine mehrschichtige Erzählung von der Anlage her gegeben. Hier stand am Anfang die Idee, die beiden Schriftsteller Friedrich Glauser und Georges Simenon zusammenzubringen und zu schauen, was passiert. Dabei dachte ich mir aber auch, dass es witzig wäre, Glausers Wachtmeister Studer und Simenons Kommissar Maigret als heimliche Rivalen einen Fall lösen zu lassen. Daraus ergaben sich dann die zwei Ebenen im Roman, die Gespräche der beiden Schriftsteller über ihr Schreiben als Rahmen und die Anwendung ihrer «Theorien» als Binnen-Kriminalgeschichte.

Jetzt haben Sie gerade erzählt, dass Sie eigentlich Wachtmeister Studer und Kommissar Maigret zusammen ermitteln lassen wollten. In Ihrem Roman kommt Maigret jedoch nicht vor, und an seiner Stelle ermittelt die von Ihnen erfundene Krankenschwester Amélie Morel. Wie kam es dazu?

Ja, das war mein persönlicher GAU! Der Roman war zu Ende geschrieben mit Studer und Maigret als Ermittler, als ich erfuhr, dass alle Ermittlerfiguren von Simenon markenrechtlich geschützt sind. Simenon darf als Kunstfigur im Roman auftreten, aber nicht die von ihm erfundenen Figuren. Was bedeutete, dass das Manuskript so nicht veröffentlicht werden konnte und ich zwei Jahre für nichts gearbeitet hatte. Aber die Geschichte und die Figuren waren für mich immer noch so lebendig, dass ich beschloss, alles umzuschreiben. Um ganz sicher zu gehen, habe ich meinen Simenon als Gegenspieler zu Glausers Studer eine Figur erfinden lassen, die der echte Simenon ganz sicher nie erfunden hat: eine Frau als Ermittlerin. Es gab damals aber keine Kommissarinnen, also wurde aus ihr die Tante des französischen Inspektors. Da Amélie Morel meine Figur ist, ergaben sich so überraschend neue Freiheiten in der Handlung.

Zur Autorin

Ursula Hasler Roumois, geb. in Schaffhausen, lebt heute in Baden (AG). Studium der Germanistik, Anglistik und Psychologie in Zürich und Paris. Danach war sie als Fachübersetzerin, Dozentin und Prorektorin an der damaligen Dolmetscherschule Zürich tätig. Hasler war Professorin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und hat zu wissenschaftlichen Themen publiziert. Ihr literarisches Debüt «Blindgänger» erschien 2016. Mit «Die schiere Wahrheit» legt Hasler ihren zweiten Roman vor.
Foto: © Ayse Yavas

Am Ende von Die schiere Wahrheit erwähnen Sie, dass Sie für die Kriminalgeschichte Sprachanalysen gemacht haben. Wie sind Sie da vorgegangen?

Von Glauser hatte ich schon vorher praktisch alles gelesen, und von ihm sind auch viele Briefe veröffentlicht. Das war wunderbares Material, viele Äusserungen aus seinen Briefen habe ich in die Gespräche mit Simenon einfliessen lassen. Bei Simenon war es ein wenig schwieriger, von ihm sind keine Briefe veröffentlicht. Es gibt von ihm ausführliche autobiografische Texte, die als solche aber bearbeitet sind, weil er sein Image immer sehr kontrollierte. Simenon spricht in diesen Texten an verschiedenen Stellen über sein Schreiben und über seine Situation im Jahre 1937, als sich sein Leben im Umbruch befand, das war aufschlussreich. Was die Krimihandlung anbetrifft, bin ich ähnlich vorgegangen, ich habe typische Beschreibungen und Aussagen aus den Studer- und Maigret-Romanen gesammelt. Der Anspruch war natürlich, dass es nach dem echten Studer und einem echten Maigret klingen muss, wenn sich die beiden Autoren zusammen eine Kriminalgeschichte ausdenken. Es war eine literaturwissenschaftliche Analyse und hat mir deshalb auch Spass gemacht.

Wie lange dauerten diese Recherchen?

Das ist schwierig zu sagen. Die erste Idee einer Begegnung zwischen Glauser und Simenon hatte ich vor vielen Jahren, liess die Sache aber liegen, ich war voll berufstätig. Von Zeit zu Zeit nahm ich das Romanprojekt wieder auf und entwickelte es weiter. Das war ein längerer Prozess, das eigentliche Schreiben dauerte dann zwei bis zweieinhalb Jahre. Plus ein halbes Jahr, als ich den Roman mit Amélie Morel neu schrieb. Alles in allem bestand mindestens die Hälfte der Zeit aus Recherchen und Analysen.

Eine wichtige Diskussion, die Sie im Roman aufwerfen, dreht sich darum, was «richtige» Literatur ist, ob die Kriminalgeschichte dazu gehören kann und was für Auswirkungen das Stigma gegen Unterhaltungsliteratur auf die Autor*innen haben kann. Weshalb wollten Sie das in Ihrem Buch thematisieren?

Weil das zu meinem Erstaunen die grosse Problematik war, die Simenons Leben beeinflusst hatte. Und auch Glauser das in seinen Briefen mehrmals aufgreift. Das heisst, es war eines der wichtigen Themen, welches die beiden so unterschiedlichen Autoren verband. Denn die grosse Frage bei dieser Idee einer literarischen Begegnung war, hätten sich Simenon und Glauser überhaupt etwas zu sagen gehabt? Sie waren komplett verschiedene Persönlichkeiten und lebten in sehr unterschiedlichen Lebenswelten. Glauser ein poète maudit, der morphiumsüchtig und Zeit seines Lebens bevormundet war und immer mal wieder interniert wurde. Schreiben war für ihn existentiell. Simenon war hingegen ein sehr strukturierter Mensch. Er hatte eine klare Karriereplanung als Schriftsteller, in der er festlegte, wie er in wie vielen Jahren wohin mit seinem Schreiben kommen wollte. Zuerst schrieb Simenon unter Pseudonym Hunderte sogenannter Groschenromane, Fingerübungen, mit denen er schreiben gelernt habe. Danach unter seinem Namen Romane und Kriminalgeschichten und schliesslich die Kommissar Maigret-Reihe, die ihn Anfang der dreissiger Jahre schon berühmt und reich gemacht hatte.

Und Glauser?

Auch Glauser wurde dank der Wachtmeister Studer-Krimis bekannt, sein Roman Gourrama ist erst 1940 zwei Jahre nach seinem Tod erschienen. Mit dem Krimi ist man in einem Genre, das zur Unterhaltungsliteratur zählt. Sie wollten beide aber von der «wahren» Literatur ernst genommen werden, wollten als literarische Schriftsteller anerkannt werden. Glauser ist mit zweiundvierzig bereits gestorben, Simenon litt zeitlebens darunter, dass er vom Feuilleton nie wirklich als solcher akzeptiert wurde. Bei ihm besteht der Zwiespalt manchmal auch heute noch, ob er zum Kanon gehört oder nicht. Er war ein unvorstellbarer Vielschreiber, und das macht ihn irgendwie unheimlich: «Kann das literarisch gut sein, wenn jemand solch eine Textmenge produziert?».

Simenon überarbeitete seine Texte bekanntlich nie. Glauser hingegen verlor sich meist beim Redigieren seiner Texte. Wem ähneln Sie mehr?

Wohl eher Glauser. Interessant ist, wie sie beide schrieben. Simenon wie zu damaliger Zeit üblich von Hand, und er liess es nachher abtippen. Glauser war einer der frühen Schriftsteller, der direkt in die Maschine getippt hat. Wenn man Typoskriptseiten von ihm sieht, sind sie von Hand immer wieder überschrieben und überschrieben worden. Heute im Computerzeitalter ist es einfacher. Man formuliert sehr viel schneller mal etwas, wenn das Ändern so einfach ist. Ich überarbeite sehr viel. Es ist ein längerer Entstehungsprozess des Schreibens und Ruhenlassens…

Ein Thema, das immer wieder in Ihren Romanen auftaucht, wenn auch auf verschiedene Arten, ist die Wahrheit. Was interessiert Sie daran besonders?

Vielleicht, dass es eben keine absolute Wahrheit gibt. Beim Blindgänger mit dem Thema Erinnerung geht es darum, dass es keine wahren Erinnerungen gibt, dass Erinnerungen vielleicht immer ein Konstrukt sind. Das Gehirn könnte die Masse des Erlebten gar nicht speichern, es legt nur Bausteine der Fakten ab plus die Anweisung, wie daraus wieder eine konkrete Erinnerung konstruiert wird. Ich habe damals sehr viel zum Stand der Forschung recherchiert und bin auf sehr spannende Erkenntnisse in der Psychologie und Gehirnforschung gestossen, wie dass die Hauptfunktion des Gedächtnisses vermutlich gar nicht das Speichern, sondern das Herstellen von Erinnerungen ist. In MRI-Experimenten mussten Personen sich zuerst an Dinge erinnern und danach etwas erfinden. Die MRI-Scans zeigten, dass bei beiden Denkvorgängen die gleichen Stellen im Hirn aktiviert wurden. Dass wir beim Erinnern und beim Erfinden also dasselbe tun und dass darum Erinnerungen immer Imaginationen, also Erfindungen sind. Keine Wahrheiten. Das fand ich hoch interessant und habe es im Blindgänger literarisch verarbeitet.

Wie kommt da der Krimi ins Spiel?

Beim Krimi ist es ähnlich. Ermittlungsarbeit ist Wahrheit finden. Da hat es mich gereizt, ob man einen Krimi schreiben kann, in dem der Fall gelöst, also die Wahrheit über das Verbrechen herausgefunden wird, und danach eine weitere Handlungsschlaufe anhängen kann, die eine ganz andere Wahrheit aufdeckt und damit alles in Frage stellt. Auch ein gelöster Fall ist nicht immer wahr, vielleicht war alles ganz anders. Wahrheit ist nie absolut, Wahrheit gilt, solange man sie begründen kann. Aber wenn man andere Fakten liefert, ergibt das auch eine andere Wahrheit.

Simenon war für Glauser ein Vorbild und ein Lehrer. Haben Sie auch eine Autorin oder einen Autor, mit dem Sie sich gerne treffen würden, um miteinander eine Geschichte zu entwickeln?

Da müsste ich etwas länger nachdenken! Vielleicht tatsächlich mit Glauser. Er war nicht nur als Mensch, sondern auch in meinem Roman als Figur unglaublich spannend. Ob ich da jedoch die Rolle von Simenon spielen könnte, weiss ich nicht. (lacht)

Das Gespräch führte Noëlle Lee.

Foto: © Ayse Yavas

Ursula Hasler Rumois: Die schiere Wahrheit. Glauser und Simenon schreiben einen Kriminalroman. 344 Seiten. Zürich: Limmat Verlag 2021, ca. 34 Franken.

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