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Mit einem Haus an der Küste wäre es auch nicht getan

Heinz Helle erzählt in seinem autofiktionalen Roman «Wellen» fast ohne Pathos vom Leben eines Vaters in der modernen Gesellschaft, von Verunsicherung und vom ewiglich unerfüllten Wunsch, ans Meer zu ziehen.

Von Larissa Waibel
12. September 2022

Der Ich-Erzähler in Heinz Helles neuem Roman Wellen ist Schriftsteller und soeben zum zweiten Mal Vater geworden. Er lebt mit seiner Familie in Zürich und seine Partnerin hat denselben Beruf wie er. Die Rahmenbedingungen der Geschichte sind deckungsgleich mit Heinz Helles Realität, der «im echten Leben» mit Julia Weber verheiratet ist. Die Voraussetzungen für eine Verortung des Romans im Genre der Autofiktion sind erfüllt. Und übrigens ist auch Julia Webers kürzlich erschienener Roman Die Vermengung ein autofiktionaler Text, der sich, wie Wellen, um die Geburt des zweiten Kindes und um den Zusammenhang von Elternschaft und Kunst dreht.

Zum Autor

Heinz Helle, Jahrgang 1978, studierte Philosophie, arbeitete als Texter in Werbeagenturen und absolvierte das Schweizerische Literaturinstitut in Biel. Heute lebt Helle mit seiner Familie in Zürich. Seine ersten drei Romane wurden jeweils für den Deutschen oder den Schweizer Buchpreis nominiert.
Foto: © Max Zerrahn

Der Wellengang des Vaterlebens

In der Form eines inneren Monologs, der mit Versatzstücken aus feministischem Lesematerial gespickt ist (z.B. Maggie Nelson, Rachel Cusk u.v.a.), vermag der Roman glaubhaft und verdichtet das Leben eines Vaters zu vermitteln, der zwischen bodenloser Überforderung und absoluter Glückseligkeit schwankt; der nach dem Aufstehen mit Mühe und Not zur Toilette gehen und einen Espresso trinken kann, bevor die Kinder wach werden. Eines muss gefüttert, gewickelt oder verarztet werden, das andere, ältere, muss zur Schule und wenn es sich auf den Weg dahin macht, winkt der Ich-Erzähler vom Balkon herunter, erschöpft, aber zufrieden. Dann macht er den Haushalt, organisiert Kindergeburtstage, versucht, ein guter Partner zu sein, sich nicht selbst zu verlieren und ab und an selbst zum Schreiben zu kommen. Tagträumend stellt er sich dabei immer wieder vor, mit seiner Familie woanders als in der Grossstadt zu leben. Im Internet schaut er sich Immobilien in Norddeutschland oder Südschweden an, Meerblick und Strandzugang sind die Hauptsuchkriterien.

Schonungslose Verunsicherung

Man könnte es sich einfach machen und Helle vorwerfen, dass sich sein Ich-Erzähler als Mann und Vater über Dinge beklagt, die Frauen und Mütter seit Jahrhunderten unter der Vorherrschaft von patriarchalen Strukturen aufzuzeigen versuchen. Der Ton des Textes ist allerdings weder anklagend noch vorwurfsvoll. Der Ich-Erzähler gibt sich ausgesprochen Mühe, ein guter und feministischer Vater und Mann zu sein, indem er sich beispielsweise mit seiner Faszination für Gewalt kritisch auseinandersetzt. Er hält sich selbst für einigermassen fortschrittlich, aber nicht immer und nicht in allen Belangen. Tut er etwa als Mann genug dafür, dass seine Töchter einmal in einer besseren, gerechteren Welt leben können? Mittels solcher Fragen fördert der Text eine Art existenzielle Verunsicherung zutage und wenn der Ich-Erzähler beschreibt, wie er weinen muss (aus Trauer, Verzweiflung oder Glück), ist das erschreckend erfrischend zu lesen. Mit dieser Figur können sicher viele Lesende (egal, welchen Geschlechts), mitfühlen. Nicht ohne Selbstironie vermittelt Heinz Helle: Verunsicherung ist nichts Schlechtes, denn man kann aus ihr lernen und an ihr wachsen. Wellen ist deshalb ein schonungsloses Buch, das fast nichts ausspart. Ein paarmal stutzt man als Leser:in, denn Helle beschreibt intime Details aus seinem Leben – nicht ohne sein autofiktionales Schreiben immer wieder zu kommentieren: «Vielleicht muss ich doch anfangen, hier und da etwas zu verschweigen».

Eine Liebeserklärung an die Welt

Störend ist beim Lesen die Tatsache, dass jeder neue Abschnitt mit dem Wort «und» beginnt. Vielleicht hat sich der Autor dafür entschieden, um den repetitiven Charakter des Alltags mit Kindern zu imitieren oder um den Eindruck zu vermitteln, es handle sich bei Wellen um einen einzigen, langen Gedanken. Der Roman wäre aber vielleicht besser geraten ohne dieses ständige, ja zwanghafte Klarmachen der Verbindungen zwischen den Kapiteln. Die Kontinuität der Erzählung ist schon dank der Musikalität, die sich wellenartig durch den Roman zieht, dank der langen Sätze und der feinfühligen Beobachtungen im Text gegeben. Im Gegensatz zu seinen drei ersten Romanen versprüht dieser wesentlich mehr Wärme, zum Beispiel wenn der Ich-Erzähler über seine neugeborene Tochter schreibt: «Sobald sie die Augen öffnet und mich ansieht, ist all das vollkommen egal und ich bin glücklich, irgendwann in den letzten drei Wochen hat sie angefangen, ein Gegenüber zu sein».

Helles Ich-Erzähler will schreibend die Welt bewältigen, indem er sie beobachtet, sie umkreist und sich seiner Liebe zu ihr sicherer wird, jedes Mal, wenn er sich ihr annimmt. Wellen endet mit Schneefall – eine Anspielung auf den Zürcher Rekordschnee im Januar 2021 – und mit einer absoluten Stille, die wieder wettmacht, dass es für die junge Familie (noch) kein Haus am Meer gibt. Dieser Hang zum Pathos sei Helle verziehen, handelt es sich doch bei Wellen um ein gelungenes und äusserst feinfühliges Buch.

Heinz Helle: Wellen. 284 Seiten. Berlin: Suhrkamp 2022, ca. 35 Franken.

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