KW36

Wenn das Reale spielerisch ins Absurde übergeht – und Spass macht

Die Literaturpreisträgerin Rebecca Gisler spricht im Interview über ihr Buch «Vom Onkel», über Ekel, die Bretagne und das Schreiben in zwei Sprachen.

Von Redaktion
6. September 2022

Ich treffe Rebecca Gisler kurz vor dem offiziellen Auftakt der Solothurner Literaturtage am Aareufer. Durch das offene Fenster schwappen die Geräusche der Promenade zu uns in den Raum. Wasser, warmer Wind und Menschen, die Glacés essen: Mit viel Vorstellungskraft sitzen wir irgendwo an der bretonischen Küste, wo auch Rebecca Gislers Buch Vom Onkel mehrheitlich spielt.

Warum hast Du Dich überhaupt mit dem Onkel befasst? Wie ist seine Figur entstanden?

Als ich begonnen habe, literarisch zu schreiben, waren meine Texte auf Deutsch und nicht auf Französisch. Irgendwie gab es da schon immer diese Onkelfigur, sie war schon immer da. Anfangs hielt sie sich noch eher im Hintergrund, und ich wusste nicht genau, was ich damit anfangen sollte. Und dann, als ich begann, auf Französisch – meine Muttersprache – zu schreiben, und als auch ein längerer Text auf Französisch vorgesehen war, kam die Onkelfigur, die ja eine Grenzfigur ist zwischen Kind und Erwachsensein, immer mehr zum Vorschein.

Klingt nicht gerade nach dem nächstliegenden Roman-Stoff?

Die Onkelfigur ist tatsächlich keine klassische Romanfigur, sie scheint auf den ersten Blick eher banal, von weitem gesehen vielleicht nicht besonders interessant. Aber, und das ist das Schöne, man kann sie irgendwie auch nicht wegdenken. Und da dachte ich, ich will versuchen, mit einer solchen Figur einen Roman zu machen. Dazu muss man jede Bewegung, jede Verhaltensweise der Figur beobachten und festhalten. Und ausserdem fand ich die Beziehung zwischen dem Onkel und der Nichte interessant, weil sie nicht so nah ist wie zu den Eltern oder Grosseltern. Diese Art von Distanz in der Beziehung erlaubte es mir, viel zu erfinden und mit der Geschichte zu spielen.

Zur Autorin

Rebecca Gisler, geb. 1991 in Zürich, studierte Literarisches Schreiben in Biel und Paris. Sie arbeitet als Übersetzerin und freischaffende Autorin. Gisler schreibt Lyrik und Prosa und ist Mitorganisatorin der Reihe «Teppich» im Literaturhaus Zürich. Für ihren ersten Roman «D’Oncle» (2021) wurde sie mit dem Schweizer Literaturpreis 2022 ausgezeichnet. Rebecca Gisler lebt in Zürich und Paris.
Foto: © Noémi Bräm

Es gibt ja dann dennoch eine sehr nahe Verbindung zwischen Onkel und Nichte.

Genau. Ursprünglich wäre es in unserer Gesellschaft so gedacht, dass im Todesfall der Eltern zum Beispiel ein Onkel die Elternrolle übernehmen kann. Aber in meinem Buch ist es genau umgekehrt. Zur Nichte hat der Onkel ein so nahes Verhältnis, weil sie, durch das Beobachten, ihn und seine Gewohnheiten quasi Schritt für Schritt verfolgt und eine Faszination für ihn entwickelt. Die Nichte «verschwindet» teilweise fast hinter dem Onkel, als ob ihre einzige Absicht die wäre, den Onkel zu erzählen.

Die wichtigsten Figuren sind alle namenlos und tragen die Bezeichnungen ihrer Rolle in der Familie. Warum hast Du Namen vermieden?

Ich wollte keinen tief psychologischen Familienroman schreiben, die Figuren haben sehr stark betonte Rollen, und sie funktionieren wie Stereotypen  in diesem Familiengefüge ohne Namen. Und weil mein Text eher in die Richtung des Absurden geht, spiele ich auch mit den Wiederholungen dieser Bezeichnungen. Der Text gewinnt etwas, wenn ich immer sage «der Onkel, der Onkel, die Nichte, der Neffe…». Die Psychologie geht durch die Gesten und Körper der Figuren. Darum gibt es zum Beispiel auch eher wenig Dialoge. Ich wollte lieber so schreiben, dass man sich sehr viel selbst denken kann. Das Buch ist eine Anhäufung von Bildern und ausufernden Beschreibungen.

Das Haus des Onkels steht an der bretonischen Küste, einer wunderschönen Feriengegend. Ist die Figur des Onkels so etwas wie ein Anti-Idylle-Mittel?

Es war gar nicht so stark ein Idylle-Gedanke dahinter. Das Haus liegt eigentlich «am Ende der Welt». Es hat also zwar eine idyllische Seite, aber gleichzeitig ist es sehr isoliert. Dieses Isolierte macht auch den Onkel aus.

Die bretonische Küste hat für mich persönlich etwas sehr Magisches, fast Mystisches. Mit dieser Atmosphäre zu schreiben hat mich gereizt. In Frankreich gibt es viele solche Orte, die ein wenig verwahrlost sind, nur im Sommer kommen die Touristen, die Jungen zieht es in die Städte. Deshalb gibt es solche Fälle wie den Onkel ziemlich oft, Personen, die in den Tag hineinleben, einen kleinen Bewegungsradius haben und in grossen Häusern wohnen.

Das Haus in der Bretagne erlaubt es Dir auch, als Schweizer Autorin gewissermassen «von aussen» über die Schweiz zu schreiben.

Klar! Die Schweiz ist aber natürlich omnipräsent, es gibt also sehr viele Verweise auf die Schweiz, zum Beispiel die Mutter, die dort noch wohnt, oder auch die Verweise auf die Kindheit der Nichte und des Neffen.

Das Schreiben über eine solche Person und vor allem das Lesen hat bei mir manchmal ein merkwürdiges Gefühl von Voyeurismus ausgelöst, obwohl der Onkel ja ein Produkt deiner Fantasie ist. Teilweise habe ich mich auch ein bisschen geekelt, zum Beispiel als der Onkel am Strand eine Möwe isst. Wieso hat dich das Absurde so interessiert?

Die Möwenszene löst wohl bei vielen etwas aus (lacht). Es ist interessant, weil das viele Leser:innen sagen, und die Rückmeldungen zu diesem Ekelgefühl sind sehr vielfältig. Ich habe das gar nicht unbedingt mit Absicht so gemacht. Es sind viele alltägliche Sachen, die ich beschreibe und ich bin da auch ins Fantastische übergegangen. Ich lese auch selbst gerne genaue Beschreibungen von Alltäglichem, da liegt so viel Potential.

Und wir gehen schliesslich alle aufs WC und duschen und essen. Natürlich ist das beim Onkel stark ausgeprägt. Das hat auch damit zu tun, dass ja der Blick der Nichte sehr genau und beobachtend ist.

Die Leser:innen sehen den Onkel durch die Augen seiner Nichte. Ist sie eine zuverlässige Erzählerin?

Ich denke, das spielt gar nicht so eine Rolle. Die Nichte ist gleichzeitig die wichtigste und die unwichtigste Figur. Man erfährt über sie selbst ja so gut wie nichts. Sie ist dazu da, den Onkel zu beobachten und ihn zu beschreiben. Sie verurteilt ihn nicht, sie spricht auch nicht viel. Das ist auch die einzige Möglichkeit, die einem beim Onkel und seinem Verhalten bleibt: Zuschauen. Die Nichte begibt sich auf eine Art wieder selbst in die Kindlichkeit des Onkels hinein. Deshalb spielt es gar nicht so eine Rolle, ob sie wirklich zuverlässig ist oder nicht.

Du hast die französische Fassung des Buches zuerst geschrieben und den Text dann selbst ins Deutsche übertragen. War das auch eine Art Neuschreiben? Worin unterscheiden sich die Deutsche und die französische Fassung voneinander?

Genau, anfangs hatte ich nur ein Kapitel ins Deutsche übersetzt, nämlich das, wo der Onkel in die Möwe beisst. Damit war ich beim Open Mike in Berlin. Da dachte ich, ich muss wohl alles übersetzen. Beim eins zu eins übersetzen war ich irgendwie unzufrieden und wollte mehr ausprobieren mit den beiden Sprachen, mehr Spielraum haben. Und ich habe auch Stellen im Ursprungstext gefunden, wo etwas fehlte. Da war die französische Version allerdings schon abgegeben, und in der deutschen habe ich dann Dinge anpassen oder neu schreiben können. Vom Onkel ist jetzt ein anderes Original als D’oncle. Die beiden Sprachen sind auch zwei Imaginationswelten, die ich beide ausgeschöpft habe für die beiden Versionen. Da gibt es von «meinen» beiden Sprachen in jedem der beiden Bücher etwas drin. Man könnte wohl auch ewig weiter am Text arbeiten, wenn man alle Zeit der Welt zur Verfügung hätte, um ein Buch fertig zu machen.

Auffällig am Deinem Buch sind lange Sätze. War es Dein Vorsatz, so langen Sätze zu schreiben? Oder hat sich das so ergeben? Und wie schaffst Du es, dass sie nicht schwerfällig wirken?

Die langen Sätze haben viel mit dem Französischen zu tun. Ich habe versucht, das Mündliche des Französischen abzubilden. Als ich in Paris studierte, habe ich meine Muttersprache gewissermassen «neu gelernt». Mit der Onkelfigur wurde Französisch mir wieder zugänglicher. Ich habe auch viel französischsprachige Literatur gelesen in der Zeit, in der ich auf viele Texte mit langen Sätzen gestossen bin. Dadurch entstand dann auch in meinem Text die gründliche Lupenbewegung, mit der die Nichte alles akribisch genau beobachtet.

Es gibt eine Szene, in der Onkel, Nichte und Neffe einen Dokumentarfilm über die heile Welt in der Schweiz schauen. Es juckt sie plötzlich stark und sie beginnen sich überall obsessiv zu kratzen. War das eine Art Kommentar zu dieser «heilen Welt»?

Das sagen so viele, dass sie das so gelesen haben! Eigentlich geht es auch darum, dass die Nichte und der Neffe in der Schweiz aufgewachsen sind, und manchmal greifen sie darauf zurück. Die Schweiz tut ihnen auf eine Art gut, sie löst in ihnen etwas aus, vielleicht sogar ein Gefühl von Heimat. Es ist also eine Art ambivalente Verbindung zu einer Heimat, die man gleichzeitig liebt und nicht liebt. Um das zu beschreiben habe ich ein paar Klischees und viel Witz ausgepackt, denke ich, das hat mir Spass gemacht.

 

Das Gespräch führte Lariassa Waibel.

Foto: © Noëmi Bräm

Rebecca Gisler: Vom Onkel. 144 Seiten. Zürich: Atlantis Verlag 2022, ca. 30 Franken.

Weitere Bücher