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«Literatur entsteht ja nur durch das Leiden am Tod.» Gespräch mit Corinna T. Sievers (Teil II)

Corinna T. Sievers

Im zweiten Teil unseres Gesprächs mit Corinna T. Sievers geht es um den Eros des Oralen, das Problem literarischer Erotik - und Literatur als Exhibitionismus.

Von Redaktion Buchjahr
23. Februar 2019

Werden wir theoretisch: Könnte man den Eisberg, der am Ende deines Buches zur tödlichen Gefahr wird, als Entsprechung zu Lacans Realem lesen?

Bestimmt! Der Eisberg ist eine Art Gestaltwerdung oder natürliche Entsprechung ihres Problems. Judith leidet ja an etwas, das zivilisatorisch überformt ist und verurteilt wird. Dagegen macht der Eisberg, was er will und ist somit die Versinnbildlichung einer äusserst existentiellen Bedrohung. Der Eisberg lässt sich aber auch als eine Verkörperung des weiblichen Sexualtriebs lesen, der in der patriarchalen Kultur verdrängt und unsichtbar bleibt.

Wenn wir beim Meer und dem Eisberg sind: Überhaupt ist die Landschaft, die in deinem Buch beschrieben wird, eine hoch psychisierte.

Modell gestanden hat hierfür die Insel Sylt. Sie ist von einer unglaublichen Melancholie: Die flache Landschaft, die Gleichförmigkeit des anschlagenden Meeres, die Ausgeliefertheit der Insel dem Meer gegenüber, das sie ständig zu verschlingen bedroht, die Wortkargheit der Menschen. Zudem ist die Insel eine Metapher für das Ich, umgeben vom Meer, das dem Unbewussten entspricht. Im Gegensatz zu den Bergen ist das Meer etwas, das immer näherkommt, das einen zu verschlingen droht. In den Überflutungen und dem Zerschneiden der Landzunge wird dies deutlich thematisiert. Das Meer hat aber auch eine grosse Vergeblichkeit, als etwas, das über allem steht. Das findet man bei Theodor Storm ebenfalls ganz stark. Auch die Tiere sind in diesem Zusammenhang interessant: Einerseits sind sie beständig auf der Flucht, andererseits liefern sie sich der Natur aus, wie die Möwen, die bei Sturm aufsteigen, um sich in der Höhe dort die Flügel abreissen zu lassen. Die Kühnheit, die die Tiere dort besitzen, ist ungeheuerlich.

Zur Autorin

Corinna T. Sievers, geboren auf der Ostseeinsel Fehmarn, lebt bei Zürich. Die Autorin studierte Politik, Wirtschaft, Musikwissenschaften, Medizin und Zahnmedizin. Doktorarbeit über die Prognostizierbarkeit von Schönheit. Ihr erster Roman, «Samenklau», erschien 2010 in der Frankfurter Verlagsanstalt, 2016 folgte der Roman «Die Halbwertszeit der Liebe». Beim Bachmann-Wettbewerb 2018 in Klagenfurt las sie einen vielbeachteten Auszug aus «Vor der Flut». «Propofol» ist Sievers sechster Roman.
Foto: © Stefan Baumgartner

Zudem ist das Wasser ja – wenn man das mit Theweleits «Männerphantasien» liest – auch eine weiblich kodierte formative Kraft.

… die Frau und die Flut, richtig – wozu sich natürlich fügt, dass der weibliche Orgasmus im Unterschied zum Männlichen wellenförmig verläuft. Und natürlich weiter: Weiblichkeit als das Flüssige, dass zersetzend wirkt, die Einheit des Subjekts auflöst, deswegen eben bedrohlich wirkt.

Kommen wir mal zur Sprache Deines Romans, also zum pornographischen Schreiben. Die Raffinesse des Textes scheint ja darin zu liegen, dass er zunächst in seiner Wortwahl voll auf den Trieb zielt, also erotisiert – um dann genau diese Ansprache unter der Gürtellinie als einen Mechanismus blosszulegen.

Der Mann meiner Protagonistin thematisiert das ja auch, wenn er Pornographie als ein serielles Geschehen charakterisiert. Und das Verhalten seiner Frau, die ja in der erotomanen Wiederholungsschleife drinsteckt, ist in dieser Hinsicht auch tatsächlich pornographisch. Im übrigen habe ich da natürlich dann auch ein Vermarktungsproblem. Auf «Amazon» und ähnlichen Seiten läuft der Titel nämlich deswegen unter dem Label «Erotische Literatur». Und dann kaufen Leute den Titel und sind enttäuscht, weil sie ein erotisches Buch erwarten.

Der Roman reflektiert ja das grosse Problem literarischer Erotik. Wir zitieren einmal die Erzählerin: «Ich möchte sogar behaupten, dass die Schilderung des Geschlechtsverkehrs grundsätzlich Gefahr läuft, albern zu sein, nichts Vernichtenderes als Albernheit». Was genau lässt denn solch eine Schilderung albern werden?

Ich glaube, dass sich sinnliche Erlebnisse in der Kunst, insbesondere aber in der Literatur nicht adäquat wiedergeben lassen. Sexuelles Empfinden lässt sich entsprechend etwa so schwer beschreiben wie der Geschmack eines grossartigen Rindsfilets. Es ist unmöglich, Triebbefriedigungen in Worte zu fassen und deswegen treffen wir immer wieder auf Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die genau daran scheitern.

Hat die Albernheit nicht auch was mit der Tatsache zu tun, dass es hier um die Körperöffnungen, mithin also um den grotesken Körper geht?

Sicher. Nicht umsonst ist meine Protagonistin von Berufswegen ja mit der erotischsten aller Körperöffnungen, nämlich dem Mund, bestens vertraut.

Wie bedeutsam ist denn das Orale wirklich?

In Realität: Bei der Arbeit ist man durch die Vielzahl an Schutzvorrichtungen, an Geräten und durch die Anwesenheit einer Zahnarzthelferin so weit weg vom Mann auf dem Zahnarztstuhl, dass man doch recht selten – vielleicht einmal im Jahr – auf erotische Gedanken kommt. In dem Sinne unterscheidet sich die Judith aus meinem Roman doch schon deutlich von der Kieferorthopädin Corinna T. Sievers. Aus meiner Sicht ist der Mund allen anderen Öffnungen an erotischem Potenzial überlegen, weil er so gross ist, man wirklich hineinsehen kann, er verschlingen kann. Der Mund ist der stärkste Krater von allen. Er kann aber natürlich auch, je nach Pflegezustand, extrem unerotisch sein.

Jetzt waren wir schon beim Thema «Auto(r)fiktion» angelangt. Da Du mit Figuren arbeitest, die Du an Deine Person heranmodellierst, scheinst Du bewusst auch auf die Irritation zu setzen, dass Leserinnen und Leser des Romans die Romanfigur und ihre Erlebnisse auf Dich als Verfasserin rückprojizieren. Worin liegt der Reiz dieses Spiels mit der Irritation?

Das Spiel selbst interessiert mich nicht allzusehr – auch wenn ich in Klagenfurt mich vielleicht etwas stärker darauf eingelassen habe. Was mich eher treibt, ist der Wunsch nach Entblössung. Das ist ganz eigenartig: Es gibt diesen merkwürdigen exhibitionistischen Wunsch. Und offenbart führt dessen Erfüllung zur Verminderung eines Leidensdrucks.

Man benutzt dann also die Leserschaft.

Das kann man durchaus sagen: Ich benutze die Leserschaft ein wenig, um meinen Leidensdruck abzubauen. Ich habe das aber nicht erfunden. Bei Thomas Mann, in «Tonio Kröger», ist das ja auch ganz deutlich: Der Abbau des eigenen Leidens am Künstlersein über die Kunst.

Gelingt das wirklich?

Doch, schon. Mit jedem Buch ist man ein Stück Leid losgeworden. Es funktioniert freilich nur, wenn daran auch eine gewisse Schamlosigkeit gekoppelt ist. Das Problem vieler Autoren liegt darin, dass ihre Schamgrenze sehr, sehr weit oben liegt. Mir macht es überhaupt nichts aus, Geschlechtsteile zu schildern, die dann mit meinen gleichgesetzt werden, ob meine Nachbarn in Herrliberg reden oder sich die Leute vorstellen, dass ich reihenweise junge Männer in der Praxis verführe – da herrscht meinerseits eine völlige Indolenz.

Also begegnest Du diesem Verwechslungsspiel mit Gleichgültigkeit – oder handelt es sich da um Lust an der Verwechslung?

Es ist eine Art Trotz. Weniger Lust – eher ein Zorn und ein Trotz.

Ein Zorn worauf?

Dem Zorn zugrunde liegt das Scheitern der Geschlechter aneinander. Die Unmöglichkeit, zusammenzukommen, das ist für mich die stärkste Triebfeder. Unsere Kultur hat sich sehr weit entfernt von unserer Biologie. Wenn man 400.000 Jahre zurückblickt – ich habe darüber nur noch einen kurzen Abschnitt im Buch gelassen –, bekommen wir ein ganz anderes Bild nicht nur von der Promiskuität, sondern auch von der körperlichen Kraft der Frauen, in der sie den Männern gleichkamen. Es ist die gesellschaftliche Entwicklung gewesen, die uns so in die Defensive getrieben hat. Also: Es ist schon ein feministischer Zorn.

Schauen wir einmal ein paar tausend Jahre nach vorne. In Deinem Text gibt es eine Stelle, in der darüber nachgedacht wird, wie es denn sein wird, wenn Fortpflanzung und Sexualität einst komplett voneinander getrennt sein werden. Im Grunde ein Gedanke des 70er Feminismus, später von Donna Haraway aufgegriffen.

Natürlich ein wichtiger Gedanke: Diese Schwere, die der Frau durch die Geburt aufgeladen wird – so schön das auch sein mag, es bleibt halt eine Ausbeutung des weiblichen Körpers. Der Körper der Frau wird dem neuen Leben geopfert. Wenn Schwangerschaft einmal extrakorporal möglich sein wird – und ich bin sicher, es wird medizinisch möglich sein –, dann wird das eine echte Befreiung werden. Ich glaube aber zudem: Wenn es so kommen wird, wird langfristig betrachtet Sexualität überhaupt nicht beibehalten werden. Ich schätze mal, die ist dann abgeschafft, weil sie an den Zeugungsvorgang geknüpft. Vielleicht nicht in tausend Jahren, aber in fünfhunderttausend Jahren – dann wird es sie vermutlich nicht mehr geben. Was ja nicht unbedingt zu bedauern ist. Die Frage wäre dann nur: Was wäre dann mit der Kunst? Also: Woran hängt sich dann die Literatur auf – wenn es gar keiner Sublimation mehr bedarf? Literatur entsteht ja nur durch eines: durch das Leiden am Tod.

Das Gespräch führten Shantala Hummler und Philipp Theisohn.
Zum ersten Teil des Interviews.

Corinna T. Sievers: Vor der Flut. 224 Seiten. Frankfurt a.M.: FVA 2019, ca. 32 Franken.

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