KW20

Der einzige Ausweg aus dem Patriarchat oder Schafft die Liebe ab!

Bärfuss Mora

Wie müssen wir sie uns vorstellen, die feministische Utopie, den «eu-topos» nach dem Untergang des Patriarchats? Wenn es nach Corinna T. Sievers geht, ist es ein paradiesischer Lustgarten, in dem die Liebe nur noch eine verblichene Erinnerung ist und sich Penthesilea und Judith einträchtig im Arm liegen.

Von Corinna T. Sievers
15. Mai 2019

Die vier sind nackt, aber sie tragen Schilder, eine sinnvolle Massnahme, da 100 Milliarden Menschen die Erde bevölkerten und alle Aufnahme fanden im Paradies. Anders als prophezeit auch die Bösen, was eine Schönheit besitzt. Auch gäbe es sonst weniger männliche Cherubine. Nicht, dass alle Männer böse sind, ganz im Gegenteil sind es die Wenigsten, jedoch sind von den Bösen die meisten Männer.
Wohin das ganze Böse sich verflüchtigt hat, weiss man nicht, ob es sich zusammengeballt hat zu einem hässlichen Riesenplaneten oder verflüchtigt hat zu einem Nebel aus giftigem Gas, aber die Erinnerung daran gibt es noch, auch im Paradies.
Wenn wir ein wenig näher kommen, können wir lesen, was auf den Schildern steht: Judith sitzt neben Penthesilea, Holofernes neben Achill. Sie lehnen die Köpfe zurück und öffnen die Münder, vom Himmel über dem Himmel tröpfelt roter Wein.
Die Tage im Himmel eine Ewigkeit lang, abertausend Sonnen gehen auf und unter. Es gibt keinen Schlaf, auch für die Vögel nicht, sie singen noch, wenn sie heiser sind, sie bauen keine Nester.

Zur Autorin

Corinna T. Sievers, geboren auf der Ostseeinsel Fehmarn, lebt bei Zürich. Die Autorin studierte Politik, Wirtschaft, Musikwissenschaften, Medizin und Zahnmedizin. Doktorarbeit über die Prognostizierbarkeit von Schönheit. Ihr erster Roman, «Samenklau», erschien 2010 in der Frankfurter Verlagsanstalt, 2016 folgte der Roman «Die Halbwertszeit der Liebe». Beim Bachmann-Wettbewerb 2018 in Klagenfurt las sie einen vielbeachteten Auszug aus «Vor der Flut». «Propofol» ist Sievers sechster Roman.
Foto: © Stefan Baumgartner

Im Himmel sind alle schön, aber nicht alle jung. Die Einzige, die das Gemetzel zwischen den Geschlechtern überlebt hat, ist Judith, darum ist sie alt gestorben. Ihr weisses Haar fliesst über den Klee, ihre Brüste sind klein und leer und zart.
Penthesilea trägt das Haar kurz, es ist schwarz, sie hat nur eine Brust und die ist schwer, weshalb sich ihr starkes Rückgrat ein wenig nach links geneigt hat.
Achill und Holofernes scheinen Zwillinge zu sein, gross und bärtig, wo der eine seine Narbe an der Ferse trägt, tut der andere dies an seiner Kehle. Ihr Geschlecht haben sie zwischen den Beinen versteckt.
Cherubinen haben keine Flügel, jedoch die Füsse von Tieren. Mit denen scharren sie, wenn sie zanken, und sie zanken gern, am Liebsten darum, wer am Stärksten ist.
Aber jetzt sind die Männer verstummt. Sie liegen auf dem Rücken, die Münder weit geöffnet, Wein tropft auf ihre ausgestreckten Zungen.
Die Frauen aneinander gelehnt, sie teilen einen Apfel.
Judith, den Arm um Penthesilea gelegt (kaum zu verstehen): Holofernes zu köpfen sei eine Kriegslist gewesen, aber in Wirklichkeit habe sie sich von ihrer eigenen Liebe befreien wollen, da sei es nicht anders möglich gewesen, als ihn zu entmannen.
Und Penthesilea: Warum dann sein Kopf?
Und Judith: Eine Allegorie.
Sie lachen. Kurz öffnen die Männer die Augen.
Penthesilea (wir müssen ihre Lippen lesen): Sie habe sich nicht entscheiden können zwischen Zärtlichkeit und Gewalt.
Und Judith: Was dann?
Und Penthesilea: Letztlich habe die Gewalt sie befreit.
Sie nimmt Judith bei den Schultern und beginnt, ihr einen Zopf zu flechten. Ein Archaeopteryx wirft seinen Schatten, ist fort.
Penthesilea sagt: Nichts anderes führe in die Freiheit als die Abschaffung der Liebe, auch wenn das nicht einfach und mal eine Ausnahme erlaubt sei.
Sie betrachtet die ruhenden Männer.
Dann halten sie die Gesichter in die Sonne, das junge und das alte, und der Tag ist noch lang.

Danksagung: an Judith und Penthesilea, die grössten Feministinnen der Literaturgeschichte.

Dieser Beitrag erscheint im Rahmen der feministischen Woche am Deutschen Seminar der Universität Zürich, die vom 13. – 17. Mai im Hinblick auf den Frauen*streik am 14. Juni veranstaltet wird. Anlässlich dieser Woche veröffentlichen wir Beiträge von Autorinnen, die Literatur im Brennpunkt feministischer Perspektiven reflektieren. Detaillierte Informationen zum Programm und zur Aktionswoche: Flyer & Veranstaltungsseite.

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