KW33

Das Buch, ein Asteroid

Lukas Bärfuss

Auf «3511 Zwetajewa», Levin Westermanns literarischem Planetesimalen, wird die Dichtung zu Staub - und aus Staub Dichtung.

Von Philipp Theisohn
15. August 2017

Wenn das poetische Sprechen sich seiner eigenen Tradition zuwendet, balanciert es immer über einen Abgrund. Die Welt, von der die Poesie erzählt, war noch nicht da, bevor sie ihr die Worte abgerungen hat; sie beginnt und endet im Gedicht. Dass die Welt, von der andere Gedichte, andere Stimmen reden, überhaupt dieselbe ist, dass also überhaupt eine Verständigung mit der Tradition möglich wäre, steht im Zweifel. Der Weg von Text zu Text führt über die semantische Leere und dass die Dichtung jemals die andere Seite erreicht, ist alles andere als selbstverständlich. Kommt sie aber dort an, im Kosmos der fremden Bücher, dann beginnt ihre Rede mit einer Verabredung:

They had written to me, in their books, about life on earth and I wanted to write back and say yes, house, bridge, river, hair, no, maybe, never, forever.

Dieser Akt der Übereinkunft – der einer Vorlesung der amerikanischen Dichterin Mary Ruefle mit dem Titel «Remark on Letters» entnommen ist – legt die Prinzipien fest, nach denen sich die Poesie ihre Welt aufbaut: Prinzipien, die quer zum prosaischen Denken stehen. Syntaktisch ungebunden, das Gegensätzliche verbindend – das Sesshafte (house) gegen das Unstete (river), das Ja gegen das Nein, das Niemals gegen das Ewige. Benannt werden muss nicht nur das, was man sieht, sondern auch das, was man nicht sieht oder kaum sieht (hair): die noch unsichtbaren Paradigmata. Jedem poetischen Akt liegt dieses Ausschreiten der Möglichkeiten zugrunde, die der von ihm eröffnete Kosmos bereithält – und so gilt dies auch für Levin Westermanns Zweitling «3511 Zwetajewa», dem Ruefles Worte vorausgestellt sind.

Zur Person

Levin Westermann, 1980 in Meerbusch geboren, lebt in Biel. Studium der Philosophie und Soziologie in Frankfurt a.M., danach Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut (Biel). Westermann ist als freier Schriftsteller tätig und debütierte 2012 mit seinem Lyrikband «unbekannt verzogen». 2019 legte er mit dem Gedichtband «bezüglich der schatten» nach, für das er 2020 mit dem Clemens-Brentano-Preis ausgezeichnet wurde. «Ovibos moschatus» ist Westermanns erste Prosaveröffentlichung.

Die Literatur als Planetesimal

Es handelt sich hierbei um ein Kompositœuvre, um ein Amalgamat im besseren Sinne: Die Textgruppen – insgesamt vier, untergliedert in zwei Teile – werden nicht nur anthologisch versammelt, sondern unterstehen einer literarischen Inszenierung. Angezeigt wird diese durch den Titel: «3511 Zwetajewa», das ist der Name eines Planetesimalen, den die ukrainische Astronomin Ljudmila Karatschkina 1982 entdeckt und nach der russischen Schriftstellerin Marina Zwetajewa benannt hat. Das eine wie das andere ist für Westermanns Schreiben relevant: Zwetajewas Leben und Werk als literarischer Bezugspunkt im zweiten Teil des Buches, die Imagination der Literatur als eines sich aus Staubteilchen zusammenballenden, um die Sonne kreisenden Asteroiden für das Buchkonzept als solches.

Der erste Teil beginnt mit einer Inventur: Das Ich und das Du begeben sich auf eine «Expedition», die nichts anderem dient als einer Bestandsaufnahme der Dinge, die es auf diesem Himmelskörper hat – oder eben nicht hat. Kein Bison, ein Reh, keine Pferde, das Loch im Berg, der tote Hai: Entlang der Notate schreitet das erzählende Bewusstsein von seinen Wahrnehmungsspuren voran in die Ontologie der von ihm noch zu entdeckenden Welt, um dann am Ende vor der «Statue des Anagrammatikers» in Schmerz zu versinken. Der Anagrammatiker – das ist der Herold einer Schöpfung, in der alles Neue nur aus der wiederkehrenden Kombination des Alten hervorgeht. Die Zeichen, die Worte, die Dinge kehren in veränderter Gestalt immer wieder und kehren sich konsequent gegen denjenigen, der sie zu ordnen versucht. Das Messer, das eben noch am Gürtel steckt, bereit, um gezogen zu werden, ein Reh zu töten, findet wie von selbst seinen Weg in die Seite des Erzählers. Das Ich verschwindet in seiner Welt, es wird von ihr verschlungen und es ist dann an anderen, es wieder aus ihr herauszulesen, es neu – ja: anagrammatisch – zusammenzusetzen.

eine zukunft ohne dich

Und so begeben sich Westermanns Miniaturen auf die Suche nach den Spuren der verschwundenen Stimmen. Zunächst entdecken sie Tschechow, ein Portal der dramatischen Rede, in dem Aischylos und Sophokles mit Sarah Kane und Anne Carson zu kommunizieren beginnen. Geleitet wird diese Rede von einer Reflexion über die Zeitlichkeit dieser Literatur. Auch hier zunächst: Das In-sich-Kreisen der Welt.

«all dies ist geschehen / und wird wieder geschehen, eine endlose schleife / im raum, und du bist ein teil, ein teilchen eines /teils, ein teilchen eines teilchen eines teils usw.»

Die endlose Bewegung von Formung und Auflösung der Form – diese Poiesis vollzieht sich nicht nur in der Zeit, sondern vor allem aber auch durch die Zeit, die von Text zu Text eine andere Form annimmt: «eine sonne im zenit», «eine box aus schwarzem holz», «ein zug, der entgleist», «ein quadrat auf grauem grund» wird sie. Und dann: «eine zukunft ohne dich».

Über sich hinauszuschauen, das eigene Nachleben in dieser Endlosschleife zur Sprache zu bringen, das ist das eigentliche Projekt auf «3511 Zwetajewa», ein Projekt der Seher und vor allem der Seherinnnen. Kassandra zeigt sich in der Tschechowschen Reise erstmals und begleitet den Leser dann sogleich in «A plume of smoke», einen Zyklus, der sie in einer Lebensgemeinschaft mit Achilles zeigt. Ein Held des 21. Jahrhunderts ist er geworden, der seine Schlachten im Organizer speichert («Wednesday – all day – WAR»), sich im Kampf von einem Timecode treiben lässt, im Anschluss Pressekonferenz gibt und am Ende mit Hektor und Andromache zusammen zur Erholung Ferien im Chalet von Kassandras Eltern macht. Vor allem aber tut er nicht nur das, was ein Achilles tut: Er weiss auch, was ein Achilles tut, denn sein Leben wird begleitet durch Simone Weils 1940/41 verfassten Ilias-Kommentar («Die Ilias oder Das Poem der Gewalt»), der mitgeführt wird. Sich selbst und dem eigenen Tun nochmals durch die Worte anderer begegnen, hierin findet Westermanns Text die Versöhnung in der Geschichte. Und schreitet darüber zum grössten Wagnis.

Making friends with the dead

Der zweite Teil des Buches ist ganz einer jener Toten gewidmet, deren Freundschaft Ruefle in der Dichtung gefunden haben wollte: Marina Zwetajewa, eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts, tief verwoben in die literarische DNA Europas, zerrüttet, psychisch und nachgerade physisch vernichtet vom Totalitarismus. An ihr muss sich das asteroide Schreibverfahren nun beweisen: Ein Mann begibt sich im Jahre 2013 auf ihre Spur. Er beginnt bei jenem Wohnhaus in Berlin-Wilmersdorf, in dem Zwetajewa 1922 gewohnt hat – und gelangt hierüber in einen Schreibprozess, der selbst wiederum Gegenstand der Dichtung wird. Nicht der Nachgeborene, der Spätling kommentiert die Tote, sondern umgekehrt schaltet sich Zwetajewas Stimme immer wieder in das Leben, in den Stundenablauf des Rechercheurs ein; bald sind es Briefe (an Rilke, an Pasternak), schliesslich Fotografien, eine letzte Notiz.

Leicht liest man diese Seiten als intertextuelles Spiel, als «Totengespräch». Die Wahrheit ist aber nun doch, dass es in dieser Welt, als die sich Levin Westermanns Buch inszeniert, keine Dialoge gibt und auch kein Gegenüber. Die literarische Kommunikation mit den Toten, die Ruefle postuliert, ist nicht ohne weiteres zu haben, sie erfordert die Selbstvernichtung. Das Ich und sein Du – es sind keine «Gesprächspartner», sondern immer schon aufgelöste, verblichene Positionen, verwehende Sätze aus einer «grammatik von staub». Es gibt niemanden, der spricht, der nicht selbst ersprochen ist, keinen Dichter, der nicht selbst Dichtung ist. Bei Licht besehen ist das ein sehr radikales Stück Literatur, das da vor einem liegt, «radikal» im Sinne von «radikal jenseitig». Unter den GegenwartsautorInnen, die sich der kleinen Form verschrieben haben, ist Westermann der jenseitigste, um nicht zu sagen: der Metaphysiker. Man kommt seinen Texten schon recht nahe, wenn man ihnen attestiert, dass in ihnen die Literatur sich selbst zum transzendentalen Subjekt erklärt. Aber das diskreditiert sie nicht. Ihre Ewigkeit ist kein Fluchtpunkt, auf den hin die Geschehnisse, die grausamen insbesondere, sich verflüchtigen und verschwimmen. Umgekehrt ist der Weg dieses Schreibens: Sub specie aeternitatis durchwühlt es den Staub, aus dem die Welt geschaffen ist.

Levin Westermann: 3511 Zwetajewa. 91 Seiten. Berlin: Matthes & Seitz 2017. ca. 28.- CHF.

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