KW27

Move on!

Seit 2016 liest Lidija Burčak Auszüge aus ihren Tagebüchern auf Schweizer Bühnen vor. Im Herbst 2022 ist ihr Buch «Nöd us Zucker» erschienen, eine Sammlung von etwa hundert Tagebucheinträgen, welche die Winterthurerin im Alter von 15 bis 32 Jahren verfasst hat – ein sehr persönliches Buch, das sich ums Erwachsenwerden, um Sinnsuche und Identität dreht. Ausser Namen und Schreibfehlern habe sie nichts an den Texten verändert, beteuert Burčak auf der ersten Buchseite. Isabelle Hausmann hat die Autorin und Filmemacherin zum Gespräch getroffen.

Von Redaktion
4. Juli 2023

Lidija, schreibst du immer noch Tagebuch?

Ja. Ich habe wieder Freude dran, hatte eine Zeitlang aber Flaute.

Wegen diesem Buch?

Ja, auch. Meine Beziehung zum Schreiben hat sich sehr verändert, seit ich dieses Buch publiziert habe und auch, seit ich vor sieben Jahren mit den Lesungen begonnen habe. Früher war das Tagebuchschreiben ein Überlebenstool, um mit meinen Gefühlen, meinen Erlebnissen und Lebenssituationen klarzukommen. Mittlerweile habe ich dafür andere Wege gefunden. Ich hatte nie den Eindruck, gut schreiben zu können und schon gar nicht für andere Leute.

Hast du das Publikum nun beim Schreiben bereits im Blick?

Nein, eigentlich nicht. Ich habe immer für mich geschrieben, darin habe ich jahrelange Übung. Das kann ich auch heute noch sehr gut. Es tut mir auch gut, meine Tagebücher zu lesen, wenn ich mich entfernt von mir selbst fühle.

Im Jahr 2016 hast du begonnen, Auszüge aus deinen Tagebüchern vor Publikum vorzutragen. Wie kam es dazu?

Eine Freundin und ich wollten damals zusammen etwas schreiben und vortragen. Wir wollten etwas Neues kreieren – das ist nicht so einfach. Und es funktionierte irgendwie nicht. Die Leute waren aber schon eingeladen, wir mussten etwas präsentieren. Ich dachte dann, ich lese einfach aus meinen Tagebüchern. Ich habe zu der Zeit viel Improvisationstheater gemacht. Da lernt man, dass die Sachen nicht fertig und fehlerfrei sein müssen, wenn man auf die Bühne geht. Ich hatte natürlich «Schiss» vor den Reaktionen, davor, entblösst und abgeschrieben zu werden. Im Publikum waren etwa 20 Leute und ich habe fast alle gekannt. Die Reaktionen waren sehr mitfühlend und herzlich. Es war ein sehr emotionaler Abend.

Wann kam die Entscheidung, die Einträge als Buch zu veröffentlichen?

Ich hatte immer den Drang, etwas Künstlerisches zu machen, etwas aus mir zu schöpfen und zu präsentieren. Ich habe ungefähr ein Jahr gebraucht, bis ich begann, an die Buch-Idee zu glauben. Ich hatte Angst davor, es zu probieren mit diesem ‹Zufallsprodukt›, habe mich dann aber brutal gefreut, als der Verlag dabei war.

Zur Autorin

Lidija Burčak, geb. 1983 in Winterthur, absolvierte eine kaufmännische Lehre und anschliessend ein Studium in Visuelles Anthropologie an der Goldsmiths University, London. Daraufhin arbeitete sie als Journalistin für Radio, Fernsehen und Online Medien (NZZ Format, 3sat, SRF, Arte). Heute ist Burčak als freie Autorin und Filmschaffende tätig. Mit «Nöd us Zucker» veröffentlicht Burčak ihr erstes Buch, das eine Sammlung von Tagebuchtexten enthält.
Foto: © Yves Bachmann

Nach welchen Kriterien hast du die Einträge für das Buch ausgewählt?

Die Grundstruktur ist eigentlich dieselbe wie bei den Lesungen, die ist ganz einfach: Lidija ist gut drauf, schlecht drauf, gut drauf, schlecht drauf… Diese Struktur «verhebt», habe ich gemerkt. Gewisse Einträge sind richtig gut geschrieben, finde ich. Die haben Flow, Rhythmus, Witz. Die lese ich auch am liebsten. Dann stellte sich die Frage, welche Themen sich durch die Jahre ziehen. Und auch, welche Beziehungen und Figuren wichtig sind. So konnte ich bereits einige Einträge aussortieren.

Soll dieses Buch andere Menschen dazu ermutigen, Tagebücher zu veröffentlichen?

Nein, gar nicht. Ich meine: In diesem Buch stehen so viele peinliche Dinge. Aber um das geht es ja nicht. Ich habe dieses Buch nicht rausgegeben, um eine «Message» zu verbreiten. Ich mag es, wenn ich eine Lesung habe, und die Leute berührt sind. Gewisse weinen, manche lachen sich kaputt. Anderen ist es zu viel. Dieses Feedback finde ich schön.

Welche Rückmeldungen erhältst du von Bekannten und deiner Familie? Du hast zwar die Namen der Personen geändert, aber die meisten erkennen sich wahrscheinlich trotzdem wieder in den Texten.

Das war anfangs nicht ganz einfach. Das Buch beginnt mit einem relativ harten Eintrag gegen meine Eltern. Das hat schon einige Gespräche gebraucht. Aber unsere Beziehung verändert sich auch im Laufe des Buches und sie steht für etwas: Für eine Welt, aus der dieser Teenager Lidija auszubrechen versucht. Vor der Publikation habe ich mit den meisten Personen, die vorkommen, ein Gespräch geführt. Das war ein spannender Prozess. Viele meiner Freunde waren auch schon an Lesungen, bevor das Buch rausgekommen ist. Ich habe da viel Support erfahren.

Du hast dein Tagebuch auf Schweizerdeutsch geschrieben. Wieso?

Das war sicher ein unbewusster Entscheid. Ich habe teilweise auch auf Kroatisch und Hochdeutsch geschrieben, ich kann mich aber auf Schweizerdeutsch am besten ausdrücken. Aber es schränkt natürlich die Reichweite des Buches extrem ein. Und wenn ich Pech habe, mögen die Leute den Dialekt nicht. Schweizerinnen und Schweizer haben oft eine Abneigung gegenüber anderen Dialekten. Ich finde es so schade, dass man diese Vielfalt nicht abfeiert. Dass ich auf Schweizerdeutsch geschrieben habe, hat aber definitiv meine Beziehung zu dieser Sprache verändert. Ich fand es auch lange wüst. Mittlerweile sehe ich es als eine schöne, sehr vielfältige Sprache.

Du sprichst im Buch konsequent von «Jugo», wenn es um deine jugoslawischen Wurzeln geht. Woher kommt für dich dieser Ausdruck?

Ich weiss, dass der Begriff teils negativ konnotiert ist, für mich aber nicht. Es stimmt einfach nicht, wenn ich sagen würde, dass ich Kroatin bin, auch wenn ich einen kroatischen Pass habe. Mein Vater kommt aus Serbien, ist aber nicht Serbe, sondern gehört zu einer Minderheit. Ein Teil meiner Familie lebt in Kroatien, ist aber in Bosnien aufgewachsen. Es ist komplex. Daher ist es für mich einfacher, «Jugo» zu sagen. Man spricht ja auch sonst oft in Abkürzungen. Dazu kommt, dass ich hier sage, dass ich Jugo bin, dort bin ich aber die Schweizerin. Da sieht man auch, dass das keine statischen Bezeichnungen sind. Sie helfen einem zwar, Identität zu schaffen, aber sie sind auch problematisch, da man sich selber Grenzen setzt.

Hast du im Laufe des Publikationsprozesses, also während du die Einträge ausgewählt und zusammengestellt hast, Erkenntnisse über dich gewonnen?

Wenn du dich über mehrere Monate intensiv mit dir selber, deinen Gedanken auseinandersetzt, hast du irgendwann die Schnauze voll von dir. Auch diese ständigen Selbstzweifel in den Tagebüchern… Da dachte ich mir manchmal: «Move on! Okay, so hast du von dir gedacht, aber du hast doch die Macht, deine eigene Geschichte zu schreiben.» Man kann mehr oder weniger selbst bestimmen, wie man Dinge erlebt und erzählt.

Das ist vielleicht eine etwas kitschige Frage: Aber was würdest du dem Teenager Lidija heute gern sagen?

Ich habe gar kein Problem mit kitschigen Fragen, ich fühle das voll. Was ich ihr sagen würde? (überlegt) Ich hätte gern mehr Akzeptanz mir gegenüber gehabt. Mehr Geduld, mehr Liebe. Aber andererseits zeichnet dies das Leben einer Heranwachsenden auch aus, man erarbeitet sich diese Dinge. Ich bekomme auch viel Feedback von Eltern, die Jugendliche als Kinder haben und sagen, dass das Buch ihnen einen Einblick gegeben hat in eine Welt, die ihnen teilweise verschlossen bleibt.

Das Gespräch führte Isabelle Hausmann. / Foto: © Yves Bachmann

Lidija Burčak: Nöd us Zucker. 196 Seiten. Luzern: Der gesunde Menschenversand 2022, ca. 25 Franken.

Zum Verlag