KW15

Vom Ende einer Romantik

Tom Kummer

In ihrem dritten Roman «Willkommen im Tal der Tränen», der dieses Jahr mit dem Schweizer Literaturpreis prämiert wurde, führt uns Noëmi Lerch erneut in die Schweizer Alpen. Ein sorgfältiges Arrangement aus Prosaminiaturen, das auf die Austreibung des Bergidylls hinarbeitet.

Von Elisa Weinkötz
6. April 2020

Im Tal der Tränen leben und arbeiten drei Männer: der Zoppo, der Tuinar und der Lombard. Was sie in die Hand nehmen, ist ihre Arbeit und ihre Arbeit sind die Dinge und Tiere, ist das Melken, das Käsen. Es regnet viel im Tal, deshalb die Tränen, aber jede Träne ist auch ein Rest, so wie das Tal ein Rest ist. Im Haus liegt das Gästebuch, im Haus wird Polenta gekocht, im Haus wird geweint (in der Kammer, im dunklen Zwischenraum) – in Miniatur.

Und auch das Lesen dieses Tals muss in die Hand genommen werden: Der Buchdeckel ist mit groben Leinen bezogen. Innen steht ein kleines Leben in kleinen Absätzen: Alle zwei Seiten einige Zeilen, mehr nicht. Die linke Seite schwarz, die rechte weiß; rechts der Text, links die ins Schwarz geritzten Zeichnungen des Künstlerduos Walter Wolf (bestehend aus Alexandra Kaufmann und Hanin Lerch): Gestalten, Bögen und Flächen, die sich über einige Seiten hinweg wie im Daumenkino verdrehen. Es sind keine Illustrationen, sie stehen für sich und damit auf Augenhöhe mit dem Text. Und so wie die Bilder aus dem Schwarz herausgekratzt scheinen, geht es Prosaminiaturen: ein freigelegter Einblick in das Tal, teilweise abstrakt in seiner Bildlichkeit und dann wieder deutlich und fassbar.

Zur Autorin

Noëmi Lerch, geboren 1987 in Baden (AG), studierte an der Kunsthochschule Bern und an der Universität Lausanne. Nach dem Studium arbeitete sie als Reisereporterin für das Magazin Transhelvetica. Seit 2014 arbeitet sie zusammen mit der Cellistin Sara Käser im Duo Käser & Lerch. 2015 erschien im Verlag die brotsuppe ihre Erzählung «Die Pürin», für die ihr der Terra Nova Schillerpreis zugesprochen wurde. Noëmi Lerch lebt in Aquila (TI). Für ihren dritten Roman «Willkommen im Reich der Tränen» erhielt Lerch dieses Jahr den Schweizer Literaturpreis.

Noëmi Lerchs drittes Buch Willkommen im Tal der Tränen ist eine Einladung in ein Leben, das sich in Gemeinschaft mit der Landschaft vollzieht. Es distanziert sich von Romantisierung und setzt an ihre Stelle den gleichförmigen Regen. In vier Kapiteln erstreckt sich so im Großen eine Dramaturgie: LEBEN, NATUR, ARBEIT, STERBEN. Es beginnt mit der Ankunft des Tuinars im Tal, es endet mit dem Verschwinden aller drei Protagonisten. In kurzen Sätzen eröffnen die Abschnitte tunnelartige Einblicke zu den Kühen auf der Weide, in die Käserei, in die Küche, bis in den goldenen Topf.

Dass diese Welt mit ihren widerkehrenden Motiven so kleinteilig ist, macht genau ihre Verletzlichkeit aus. Das von den Touristen aufgekaufte Tal wird zur Anklage gegen Globalisierung, Wettbewerb und die Ausbeutung der Bauern durch große Konzerne. So erhält das Kleine unabsehbare Dimensionen und versinnbildlicht die Ohnmacht und leistet Widerstand, der nah an Resignation grenzt: «Die Touristen nehmen Zoppo seine letzten Worte und sein letztes Lachen mit. Er verschenkt alles. Noch so gern.»

In ihrer Not wendet sich die Sprache an die Nacht und dreht sie ins Helle. Es sind Trosthymnen der letzten, vom Welthandel ausgemerzten Menschen. Die letzten Menschen leben ein restliches Leben, das heisst: sie sind allein – mit sich, den Dingen, den Tieren, der Landschaft. Die lauten Sätze einer lauten, schnellen Welt greift hier nicht mehr. Die rare, kleine und neue Rest-Sprache, die an ihre Stelle tritt, ist die Rettung der übrig gebliebenen Menschen, der restlichen Welt. Die Tiere sind Trosttiere, die Dinge sind Trostdinge.

Das Leben fernab der Stadt, die Arbeit mit den Tieren hat Noëmi Lerch bereits in ihrem Debüt Die Pürin (2015) ins Zentrum gestellt, für das sie den Terra-Nova Schillerpreis für Literatur erhielt. Sie selbst lebt in Aquilla im Tessin und schreibt – gegen die romantische Verklärung und Abschiebung des ländlichen Lebens, das mit den Händen tut und die Arbeit noch nicht vollends in die Hirnwindungen geschoben hat: «Worüber zerbrichst du dir jetzt schon wieder den Kopf. Arbeite und zerbreche dir nicht den Kopf. Niemand hat behauptet, das Leben sei romantisch.» Und poetisch ist es doch, weil Lerch nur so dieser Geografie seine Romantik austreiben kann: im bildhaften, verletzlichen, widerständigen Sprechen.

Noëmi Lerch: Willkommen im Tal der Tränen. 288 Seiten. Biel: verlag die brotsuppe 2019, ca. 29 Franken.

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