KW25

Schotter und Schneid

Lukas Bärfuss

Blue Grit? Nach dem erfolgreichen Debüt «Die Pürin» (2015) setzt die junge Autorin Noëmi Lerch auch in ihrem zweiten Kurzroman «Grit» konsequent auf eine Poetik des Kargen. Für Fragenzeichen ist darin kein Platz, wohl aber für einige gewichtige Fragen.

Von Christoph Steier
19. Juni 2017

Falscher Film, schönes Buch

Im falschen Film landet, wer die widersprüchlichen Signale ignoriert, die Noëmi Lerchs neuer Roman «Grit» schon als bibliophil gestaltetes Objekt aussendet. Raunt der Klappentext auf grüngrauem Grund doch zunächst von einer einsamen Hütte, dampfenden Kesseln, einer käsenden jungen Frau und einer rauchenden Alten im Offiziersmantel. Ein archaisches Tableau also, das geradewegs dem populären Spätwestern «True Grit» der Coen-Brüder entsprungen sein könnte. Wären da nicht die knallbunten Kleider, die in Popart-Manier vom Titelblatt baumeln, wäre nicht kurz nach dem Offiziersmantel die Rede von einer Mutter, die in der Politik Karriere gemacht hat und von einer Tochter, die lieber von sich selbst als von den Ahnen sprechen will.

Die Öde und das Bunte, der Western und die stadtmüden Akademiker, der harte Klang des Titels und die naive Dynamik der Illustration stehen sich in der Gestaltung Ursi Anna Aeschbachers nicht schroff gegenüber, sondern bilden eine widerständige Einheit, die Lerchs Poetik auf überzeugende Weise reflektiert. «Grit», soviel sei schon verraten, ist von aussen wie von innen ein schönes Buch geworden, dessen Reiz sich nicht zuletzt der permanenten Irritation verdankt, in welchem Film man sich gerade befindet.

Splitter und Perlen

Einfach falsch ist sie nämlich nicht, die Coen-Fährte. Rief doch der Erfolg von «True Grit» vor einigen Jahren ein fast vergessenes Wort in Erinnerung. «Schneid» also, weder von «Mut» noch von «Tatkraft» ganz erfasst, Schneid hat die Titelheldin Grit einst gehabt. Erfolgreich ist sie gewesen, hat sich ihren Weg durch die Welt der Menschen und Tiere gebahnt. Um schliesslich, wie einst Nietzsche vor dem Pferd in Turin, vor einem geschundenen Nashorn im Nationalzirkus zu kapitulieren. Nicht nur hat sie in den Augen des Tieres ihre eigene Angst gesehen, sondern vor allem begriffen, dass alle Kommunikation, dass jede Beziehung einen Haken hat. In diesem Fall, ganz handfest, den Eisenhaken des Dompteurs. Der dennoch beteuert, seine Tiere hätten ihr Leben lang nichts als Liebe erfahren.

Zur Autorin

Noëmi Lerch, geboren 1987 in Baden (AG), studierte an der Kunsthochschule Bern und an der Universität Lausanne. Nach dem Studium arbeitete sie als Reisereporterin für das Magazin Transhelvetica. Seit 2014 arbeitet sie zusammen mit der Cellistin Sara Käser im Duo Käser & Lerch. 2015 erschien im Verlag die brotsuppe ihre Erzählung «Die Pürin», für die ihr der Terra Nova Schillerpreis zugesprochen wurde. Noëmi Lerch lebt in Aquila (TI). Für ihren dritten Roman «Willkommen im Reich der Tränen» erhielt Lerch dieses Jahr den Schweizer Literaturpreis.

Von solchen Haken bleibt auch das Familienleben nicht verschont. Der Traum vom einfachen Landleben im hochgelegenen Tal erfüllt sich weder für den Vater Hias noch für die Töchter Iwa und Wanda. Diese wachsen frei, aber weitgehend auf sich allein gestellt auf, während es den Vater zum Holzen, die angeschlagene Mutter in ihr von Papieren übersätes Zimmer zieht. Aus dessen hektischer Isolation heraus, überraschend genug, ihr eine politische Karriere gelingt. Gelegentlich ist sie im Fernsehen zu sehen, zu dem die Kinder ebenso wenig Zugang haben wie zu einer fürsorglichen Mutter. Das Augenmerk der Erzählung gilt dabei zunehmend Wanda, der jüngeren Tochter. Die zeitliche Ordnung gerät ins Gleiten, zu den Rückblenden auf die von Freiheit, dörflichem Gerede, angedeuteten Affären, verschwundenen Onkeln und dem Wunsch nach familiärem Zusammenhalt geprägte Kindheit treten splitterhafte Episoden aus Wandas Adoleszenz und Studienzeit. Schliesslich gewinnt die Erzählgegenwart an Kontur, in der Wanda mit ihrer eigenen Familie und der offenbar sterbenden, häufig mit Krähen und Licht in Verbindung gebrachten Mutter auf einem alten Hof zusammenlebt.

Aus den zerstreuten Splittern der 35 kurzen Kapitel, teils von, teils über Wanda erzählt, formt sich vage ein Kreis. Geschichten wiederholen oder doppeln sich gar: Auch Wandas Mann zieht es in die Berge zu seinen Schafen, wie es auch Wanda immer wieder zu den Tieren zieht. Auch Wandas Kinder sind ihr nah und doch fremd wie der Unbekannte, der sich im Haus einnistet. Nur Grits Schneid geht der wankelmütigen Wanda ab. So sind es nach dem Scheitern halbherziger Pläne am Ende die täglichen Verrichtungen, an die Wanda sich klammert. Die häusliche Enge, auch das leicht fade Glück der Beschränkung werden mehrfach bis zur Grenze belangloser Umstandskrämerei referiert, um schliesslich umso effektvoller von Andeutungen des Unheimlichem oder Mystischen durchbrochen zu werden.

Das ist, gerade als Gratwanderung auf Judith Hermann’schem Terrain, glänzend geschrieben und kühl komponiert. Wer mag, kann den ganzen Roman als atmosphärische Deklination seines Titels lesen. Bedeutet «grit» im Englischen doch nicht nur Mut, sondern auch Streusand, Schotter und Staub. Poetologische Metaphern, die nicht nur die drohende Auflösung einer bei aller Liebe und allem Eigensinn zwiespältigen Mutter, sondern auch die Möglichkeiten des Erzählens von ihr reflektieren. Klingt akademisch, ist Poesie. Und selbstredend bildet die Coen-Verfilmung nur den Anfang einer langen, anspielungsreichen Kette, die nicht bei Celans und Goethes «Margarethen» (deren Kurzform «Grit» ist) endet und auch nicht bei der griechischen Herkunft des Namens, der nicht nur die Blume, sondern auch die Perle benennt. Womit man wenigstens wieder bei der Kette landet und bei der ebenso aufrichtigen wie heiklen Bewunderung, die die selbst angeschlagene Wanda antreibt, aus den Scherben vieler Leben etwas Rundes zu formen.

Lange Schatten

Gelungen ist Noëmi Lerchs zweite Prosaarbeit jedoch vor allem, weil sie diese Spekulationen zwar erlaubt und kompositorisch unterfüttert, sich jedoch in keinem Moment von ihnen abhängig macht. Dafür sorgt ihre stilistische Disziplin. Abgesehen von wenigen Grenzgängen in kitschgefährdete oder larmoyante Gefilde findet sie einen eigenen Ton, der seine spröden Funken aus syntaktischer Reduktion, einem sparsam verwalteten Wortschatz sowie motivischen und rhythmischen Wiederholungen schlägt. Und es trotz dieser erkennbaren Programmatik (nicht einmal Fragezeichen sind erlaubt) schafft, sich eine natürliche, fast mündliche Grundierung zu geben. Dieser Ton trägt eine Geschichte, die sich bei allem spröden Glanz zu ihrem Schattendasein bekennt: «Dein Schatten», so Wanda am Ende zur Mutter, «ist nur meine Landkarte. Ich wohne da und gehe bis dort, wo die Karte endet. Mein Land in deinem Schatten ist grösser als alles, was ich mir vorstellen kann, und noch lange kenne ich sie nicht alle, die Geheimnisse. Ich brauche deine Geschichten, um mich in meinem Land zurechtzufinden.»

Klarer und schöner lässt sich kaum sagen, dass die Zeit der schneidigen Helden und ihrer grossen Erzählungen lange vergangen ist, ihre Schatten aber mit der Entfernung nur wachsen. Die noch mögliche und nötige Literatur, daran lässt Noëmi Lerchs konzentrierte Arbeit keinen Zweifel, dürfte jene sein, die im Schatten der Schatten die Felder bestellt.

Noëmi Lerch: Grit. Roman. 104 Seiten. Biel: verlag die brotsuppe 2017. 24,- CHF.

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