KW14

Schöne, neue Welt des Kapitalismus

Tom Kummer

Mit «Verkaufte Welt» ist Rinny Gremauds prämierter Reportageroman «Un monde en toc» in deutscher Übersetzung erschienen. Darin ergründet sie die idyllischen Simulationswelten überdimensionierter Konsumzentren und verbindet gekonnt Gesellschaftskritik mit biographischen Reflexionen.

Von Salomé Meier

Als Rinny Gremaud im Januar 2014 ihren Mann und ihren kleinen Sohn für eine Recherchereise zu den grössten Malls der Welt verlässt, ist sie sich selbst nicht ganz im Klaren darüber, weshalb sie dies tut. Die Hässlichkeit dieser kolossalen Konsumtempel, in denen sich ihr überall die immer gleichen Markenklamotten und Kosmetika anbiedern, stösst sie von Anfang an im Innersten ab.

Dass Menschen sich an ihren arbeitsfreien Tagen bereitwillig in diese fensterlosen Gebäude begeben, um ihre Freizeit zu «verbummeln», wird ihr von Tag zu Tag unerklärlicher. Und doch: Auch sie ist «freiwillig» hier. Nicht etwa um einzukaufen oder Zeit totzuschlagen. Gremaud treibt etwas Anderes an, ein dunkles Gefühl, eine Ahnung, dass sich hinter diesen jedes Mass übersteigenden Architekturen des Konsums etwas ablesen liesse.

Mit der präzisen Beobachtungsgabe einer erfahrenen Journalistin berichtet Rinny Gremaud über die Auswahl und Anordnung der Geschäfte, von millionenschweren Uhrenherstellern über amerikanische Sport- und Unterwäschemarken bis hin zu den plötzlich überall anzutreffenden Handyhüllengeschäften. Sie bringen eine Homogenisierung und Globalisierung des Angebots zum Ausdruck, welche immer weniger Menschen an der Spitze grosser Fast Fashion Ketten und Mischkonzernen das Geld in die Kasse spülen, während die Betreiber*innen von kleinen, lokalen Läden nach und nach aufgeben müssen.

Zur Autorin

Rinny Gremaud, geboren 1977 in Busan (Südkorea), lebt in Lausanne. Studium der Betriebswirtschaft an der HES-SO (Haute école spécialisée de Suisse occidentale). Von 2007 bis 2015 schrieb Gremaud für Le Temps und machte sich mit ihren internationalen Reportagen und Portraits einen Namen. Seit 2015 ist Gremaud als freie Journalistin tätig und arbeitet heute für das Radio Télévision Suisse. Ihr erster Roman «Une vie en toc» ist 2018 in der Reihe Fiction & Cie im Verlag Éditions du Seuil (Paris) erschienen. Für ihren Erstling wurde sie 2019 mit dem renommierten Prix Michel-­Dentan ausgezeichnet.
Foto: © Ayșe Yavaș

Schnell stellt Rinny Gremaud fest, dass sich die Malls unter dem Druck der Online-Shops längst nicht mehr nur auf den Handel mit «Dingen» verlassen. In so faszinierenden wie absurden Dimensionen beherbergen die Malls in Dubai oder dem ebenfalls durch Erdöl zu Reichtum gekommenen Alberta (Kanada) ganze Freizeitpärke und verkaufen fortan experiences: Ausser Kinos umfassen sie riesige Aquarien mit lebenden Robben oder Pinguinen, Bowlingbahnen, Wasserspiele, Eisbahnen, Wellenbäder und Skipisten – letztere inmitten der Arabischen Wüste.

Auf paradoxe Weise bietet die Mall damit eine zweite, heile Disney-Welt an, die gleichzeitig aufregender als die «echte» Welt ist, wie auch – fern von Strassenkriminalität oder satanischer Wüstenhitze – sicherer. Wie sehr die Mall als eine idyllische Parallelwelt fungiert, wird etwa über Gremauds Schilderung der Edmonton Hall in Alberta deutlich: Während draussen die Schneestürme wüten, betritt sie durch einen Seiteneingang mit einem Schritt eine theatrale Kulisse. In künstlicher Frühabenddämmerung reihen sich die Restaurants auf beiden Seiten der «Strasse» aus Pseudopflaster und erinnern mit ihren Strassenlaternen und falschen Häuserfassaden gleichzeitig an Venedig und Paris. In ewiges Dämmerlicht getaucht ist alles hier, verdichtet zu einem einzigen exotischen, paneuropäischen Sehnsuchtsort.

Die überdachte Passage und Flaniermeile, die Walter Benjamin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf den Spuren eines sich über die Strassen, Geschäfte und Reklamen konkretisierenden kollektiven Imaginären entlangspazierte, hat die Megamall buchstäblich geschluckt: In der Morocco Mall in Casablanca befindet sich ein Imitat der Galeries Lafayette, ein eigenes Gebäude im Gebäude, das, wie Rinny Gremaud lakonisch anfügt, der Moroccan Mall ihren kleinen Eintrag ins Guiness-Buch der Rekorde einbrachte. 2’337 km entfernt von ihrem Original sind die simulierten Galeries nur noch ein Glied in einem System von Ketten und Markenläden, ein Nicht-Ort mit Marc Augé gesprochen, der, egal wo auf der Welt sich die Mall befindet, immer schon auf eine andere Zeit, einen anderen Ort verweist. Vielleicht aber, so lässt Gremaud zwischen den Zeilen erahnen, ist die Ladenpassage in der modernen Mall überhaupt nur noch eine Attrappe, eine Simulation, auf die sich jedes mögliche Begehren projizieren lässt.

Ihre Beobachtungen reichert Rinny Gremaud mit sprachlich traumwandlerischer Sicherheit durch philosophische, raumsoziologische und kapitalismuskritische Theorien und Gedanken an. Nicht zuletzt ist es aber die das ganze Buch durchziehende literarische Selbstreflexion, die Verkaufte Welt lesenswert macht: Die Bewusstwerdung ihrer eigenen privilegierten Perspektive, die sie überhaupt so etwas wie Ekel und Widerwille gegen die von Macht- und Geldgier geformten monumentalen Konsumtempeln empfinden lässt.

Erst ganz zum Schluss erfahren wir, was die Schweiz-Koreanerin Rinny Gremaud trotz ihres Widerwillens immer wieder zu diesen Bauten zieht: In der letzten Szene – sie sitzt müde, erschöpft und von Heimweh gequält am Flughafen in Lissabon fest – vermischen sich in ihrer Vorstellung Flughafen und Megamall, diese beiden Nicht-Orte, und sie erinnert sich an etwas, woran sie glaubte, keine Erinnerung mehr zu haben: Sie sieht sich als Dreijährige auf ihrer ersten Flugzeugreise mit ihrer Mutter am Flughafen Seoul, zwischen Duty Free Shops wartend auf eine ungewisse Zukunft in der Schweiz. Damit ist Rinny Gremaud in Verkaufte Welt nicht nur eine brisante Gesellschaftsanalyse gelungen, sondern auch ein sehr persönliches, psychologisches Buch.

Rinny Gremaud: Verkaufte Welt. Eine Reise zu den fünf Tempeln des Megakonsums. 208 Seiten. Luzern: edition bücherlese 2020, ca. 28 Franken. Aus dem Französischen übersetzt von Andrea Spingler.

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