KW13

Good stöff?

Tom Kummer

In seinem dritten Roman «Auf der Strecki» steigt Roland Reichen ein weiteres Mal hinab zu den Sprachzermalmern. Eine intensive Erfahrung.

Von Philipp Theisohn

Vorweg: Zur Mündlichkeit der Schweizer Gegenwartsliteratur

Mit Blick auf die durchaus rege Produktion von Mundartliteratur beschleicht einen doch zunehmend ein leises Unbehagen, das keinesfalls dem überlieferten Ressentiment gegenüber dem «bluemete Trögli» entspricht, sondern sich vielmehr gerade aus der Reflexion des Ressentiments abzuleiten scheint. Entsprang die Wende zur «modern mundart», wie sich anlässlich der Neuedition von Walter Vogts Mundarttexten nochmals reminiszieren liess, ausdrücklich dem Impuls, die trügerische Natürlichkeit der diglossischen Wirklichkeit «als Kunst, also als künstlich» zurückkehren zu lassen, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich das Dispositiv der Mundart als artifizieller Sprachform mittlerweile verselbständigt hat. Wo im Umfeld der spirale, bei Vogt oder Marti noch tatsächlich so etwas wie Subversion durch Sprachwahl möglich war, insofern hier zwei entgegengesetzte Rezeptionshaltungen – naturalisierende und denaturalisierende – miteinander konfrontiert und ineinander überführt wurden, da vermag die Mundartdichtung als etabliertes avantgardistisches Genre immer weniger von den Verfremdungseffekten zu zehren, die ihren zweiten Aufbruch in den 1960er Jahren begleiteten.

Zum Autor

Roland Reichen, geboren 1974, ist Co-Leiter des Teilprojekts Textphilologie an der Forschungsstelle Jeremias Gotthelf der Universität Bern. Er hat zwei Romane in stark dialektgefärbtem Deutsch verfasst, «aufgrochsen» (2006) und «Sundergrund» (2014). «Sundergrund» wurde 2015 mit einem Literaturpreis des Kantons Bern ausgezeichnet. Letzte Veröffentlichung zusammen mit Peter Reichen und Jonathan Liechti: «Druffä. Aus dem Leben eines Berner Drogensüchtigen» (Münsterverlag 2019).
Foto: © Philip Delaquis

Um es klar zu formulieren: Das oben adressierte Unbehagen ist ein Unbehagen am auktorialen Gestus. Leicht hingenommen und überspielt wird in dieser Literatur mittlerweile das Faktum der rezeptiven Spaltung. Man legt einfach ein Paradoxon zugrunde: Geschriebene Mundart ist so exklusiv, dass sie gleichzeitig schon wieder universal ist. In der Mundartlyrik, nicht zuletzt im Spoken Word-Sektor stützt sich dieses Paradoxon auf das Phänomen des Lautes, also auf das Zurücktreten hinter die Bedeutung sprachlicher Zeichen. Die Faszination an dieser Freisetzung ist gleichwohl begrenzt. Man hat das mittlerweile schon zu oft gehört und gelesen und erwartet die Verschleifungen von Anglizismen und Dialektalem, die Iteration, das Abgleiten der Einkaufsdialoge in Oulipo-hafte Unverständlichkeit. Die Begeisterung an all dem trägt mittlerweile Züge, die jener Biederkeit, die man der traditionellen Mundartdichtung attestierte, in nichts nachsteht. Im Gegenteil kommt einem Autor wie Ernst Burren, dessen Erzählgestus viel stärker an Autorinnen und Autoren wie Maria Lauber, Albert Bächtold oder Albin Fringeli erinnert, im Horizont der zeitgenössischen Mundartliteratur ein Höchstmaß an Originalität zu – und zwar gerade weil seine Texte die sprachliche Abschottung ins Erzählen zu überführen vermögen, sich im Anspruch nicht überheben und hierdurch neuen Anschluss an die (Oberdorfer) Wirklichkeit gewinnen.

Die Kunstform der sprachlichen Verlegenheit

Item. Die Rede sei hier von anderem und doch Verwandtem, nämlich von einer Literatur, die den Bruch zwischen Alltags- und Schriftsprache nicht nonchalant mit Verweis auf die Modern Mundart einfach weglächelt, sondern den Bruch forciert, sichtbar hervortreten lässt. Der Gewährsmann für solche Verfahren ist und bleibt Gotthelf, dessen Romane Absatz für Absatz die Barrieren zwischen Emmentaler Bauernwelt und Drucksprache immer wieder überklettern müssen, ihre Figuren wie Leser ganz bewusst über sie stürzen lassen. Niemand spricht oder sprach so, wie es im Anne Bäbi Jowäger steht – zumindest nicht freiwillig. So zum Beispiel:

«Sie waren einmal zMärit gegangen alle drei, und Jakobli hatte eine schöne weiße Kappe an, tief über die Ohren gezogen, und das Zötteli bolzgrad auf. Aber auf dem Märit hatten alle Buben Tellerkappen, und es dünkte Anne Bäbi, wenn Jakobli auch eine hätte, so würde ihm kein anderer Bub nur an die Zechen recken, und wohin es sah, sah es einen Kappenmann, und es dünkte ihns, einer hätte eine schönere als der andere, und unwillkürlich blieb Anne Bäbi vor einem Kappenstande stehen und Hansli auch, aber daß sein Anne Bäbi an eine Kappe dachte, kam ihm nicht von ferne in Sinn.«

Vielleicht könnte man diese Sprache auch eine zur Kunstform erhobene Verlegenheit nennen: Das Hinabtauchen in eine Welt, in der die schriftdeutsche Norm als eine Zumutung spürbar wird, die man in den besten Momenten aushält, von der man aber bisweilen ganz ablassen muss, wenn die Überreizung zu gross wird. Die Risse gehen bei Gotthelf mitten durch die Sätze («ein großer Lätsch stand polzgrad use»), durch die Figurenrede hindurch – und eben hierin schreiten diese Texte aus dem Emmental hinaus in eine zerbrechliche Welt, die nicht mehr sicher beschrieben und auch nicht besprochen werden kann.

Auf die harte Tour

Es verwundert dementsprechend kaum, dass der Autor, der in unseren Tagen solche Texte zu produzieren vermag, sein Brot an der Gotthelf-Forschungsstelle der Universität Bern verdient. Roland Reichen, dessen Debüt aufgrochsen (2006) sich bereits dem Wagnis gestellt hatte, einen Roman aus der erlebten Rede zweier der Literatursprache unmächtigen Gestalten erwachsen zu lassen, wendet sich mit seinem dritten Roman Auf der Strecki erneut den Versehrten zu: dem ins Elend abgerutschten Kleinbürgertum. Eine interessante Familie hat er sich ausgesucht: Der Vater, durch Wickelkommodensturz frühgeschädigt, latent gewalttätig, später Parkinsonpatient, die Mutter Psychiatriepatientin im Örtlimatt wegen Depressionen, dann Krebs, der ältere Sohn Meggi ein Drögeler, der seine Kreise in Bern zwischen der Gurnigelstrasse und der Hodleren zieht, der jüngere Sohn die Situation erkennend, ohne ihr gleichwohl entrinnen zu können. Vergeblich klammert er sich ans Buch E.M. Ciorans Vom Nachteil, geboren zu sein; Erkenntnis der Misere führt längst nicht aus der Misere.

Man bleibt auf der Strecke, im Bus ins Abseits, der da dem Unternehmen Passion Reisen Steffisburg (Passion in doppeltem Sinne zu lesen) gehört und Vater samt Sohn samt einschlägiger Mitfahrerschaft zu einem Formel Eins-Rennen nach Monza verfrachtet. Zu sehen gibt es dort dann wenig, denn für Leute solcher Provenienz gibt es in Monza wie im Leben nur «Biglietti per tschiirgolare», sie dürfen «sich zwar überall herumbewegen, nur nicht auf den Tribüninen und der Boxengass.»

Klug daran ist natürlich die adäquate Umsetzung ideologischer Mechanik: Das, was diese Menschen im System hält, ist nicht das, was sie tatsächlich zu sehen bekommen, sondern das, was sie sich darunter vorstellen. Träumen, Teil der Lagerbildung zu sein, «für Räikkönen fänen müssen» oder «für Massa fänen» (auch wenn man das nicht verstehen kann). Wie die Boliden bewegen sie sich dabei immerfort im Kreis, nur viel langsamer, unbedient, mittellos. Ersatzteillager stark limitiert, im Zweifel Weiterfahrt mit bleibenden Schäden. Eine harte Tour.

Unten: Wo Komik Verzweiflung ist

Die Stärke des Textes liegt durchweg im Kompositorischen, denn Reichen verzichtet bewusst auf die großen Bögen. Entwicklung dort, wo Entwicklung erklärt – wo sie nichts erklärt, genügt die Szene. Zwölf davon sind es, mit wechselnden Erzählern, dem Müeti, dem Meggi, dem Cioran-Leser. Sämeli – Vätu – bleibt immer Erzählobjekt, ohne Innensicht. Gleichwohl gelingt hier eine Familienchronik ohne Aufgang und Niedergang, denn weiter runter geht es kaum. Auf der untersten Ebene, dort, wo alle Pädagogik zur Farce wird, entwickelt sich dabei auch so etwas wie Komik: Das klauende Junkiepärchen, das von Supermarkt zu Supermarkt, von Hausverbot zu Hausverbot tingelt und dabei auf den immer gleichen, bereits namentlich bekannten Hausdetektiv Bürki – «eigentlich kein Untaner» – trifft, führt jedes Konzept von Verbrechen und Strafe ins Absurde. Der Beschaffungsslapstick mündet gleichwohl in das Niederste, in Beschaffungsprostitution, Verzweiflung, Verachtung. Nur selten sehen diese Leute wirklich Licht: beim Heroinkauf in der Afrikaner-WG etwa, wo Meggis Kollege Chäschpu dem Mittelsmann auf den Weg gibt «Tell the Stylish Man that it was good stöff, that I take for another two thousand.»

Die Armen kauen die Sprache

Auf der Strecki gefällt sich bisweilen etwas zu sehr im Ekel, wirft hin und wieder zu ostentativ mit Fäkalien und mag einen leicht klischierten Schluss besitzen, der das Gemeinschaftsgefühl der syrischen Flüchtlingsfamilie der vergemeinschafteten Einsamkeit des Schweizer Prekariats gegenüberstellt. Indessen gelingt Reichen der Ritt auf der Rasierklinge, und er bewältigt diesen Ritt sprachlich. Zur zerstörten Sprache der Unterschichten als literarischem Fetisch ist schon Wesentliches gesagt worden, zum Beispiel in den Minima Moralia:

«Der Arme kaut die Worte, um an ihnen sich sattzuessen. Von ihrem objektiven Geist erwartet er die kräftige Nahrung, welche die Gesellschaft ihm verweigert; er nimmt den Mund voll, der nichts zu beißen hat. So rächt er sich an der Sprache. Er schändet den Sprachleib, den sie ihn nicht lieben lassen, und wiederholt mit ohnmächtiger Stärke die Schande, die ihm selber angetan ward.»

In der Tat ist Vorsicht geboten, denn die «Sprache der Unterworfenen» bleibt natürlich eine zugerichtete, beleidigte Sprache, sie trägt die Spuren der Herrschaft, die ihr die Wunden zugefügt hat, aus denen sie blutet. Reichens Personal scheint darum jedoch zu wissen, Adorno kommt auch ganz unten noch an. Wohl fehlen diesen Menschen die eigenen Worte, um seiner Diagnose etwas Wirksames entgegenzusetzen. Aber dafür hat man ja dann seinen Cioran mit an Bord: «Keinerlei literarische Qualität ist möglich, wenn man die Sprache nicht foltert, wenn man sie nicht zermalmt.»

Diese Literatur beginnt dort, wo alles zermalmt ist, das Leben in Trümmern liegt. Und ja: Vielleicht beginnt gute Literatur sowieso immer nur dort. Wo auch immer sie dann am Ende ankommen mag. Good stöff.

Roland Reichen: Auf der Strecki. Roman. 128 Seiten. Luzern: Der gesunde Menschenversand 2020, 25 Franken.

Zum Verlag

Weitere Bücher