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Reden ist Silber, «Schweigen ist Mist».

«Gestapelte Frauen» von Patrícia Melo ist ein literarischer Aufschrei angesichts der systematischen Gewalt an Frauen in Brasilien und setzt der grausamen Realität von Femizid eine Erzählökonomie der Vergeltung entgegen.

Von Julia Sutter
4. Oktober 2021

Eine Mutter wird von ihrem Ehemann getötet, weil sie ihren kleinen Sohn zurechtweist. Eine andere Frau wird wiederum von ihrem Ex-Freund ermordet, als sie die Wohnungsschlüssel zurückbringen will. Eine dritte wird von ihrem Mann erstochen, weil sie die Lautstärke des Fernsehers verstellt hat. Solch grausame Verbrechen gehören in Brasilien zur Tagesordnung. Patrícia Melos neuer Roman – übersetzt aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita – erzählt von einer jungen Anwältin, die in den brasilianischen Bundesstaat Acre zieht, um ihrem gewalttätigen Ex-Freund zu entfliehen, und um Recherchen für ein Buch über Misogynie anzustellen. Während ihres Aufenthalts wird die junge Frau immer tiefer in den Sog der Gewalt gezogen, von der sie lediglich im Traum, in der Natur oder bei der indigenen Bevölkerung Schutz findet.

Femizidstapel

Gestapelte Frauen erhebt misshandelte und getötete Frauen zu seinen Leitfiguren. Auch die Ich-Erzählerin verlor im Kindesalter ihre Mutter – durch die Hand des eigenen Vaters – und kämpft seit jeher mit diesem Verlust. Selbst wird sie wiederum Opfer von virtueller Gewalt. Somit nimmt der Roman die Perspektive der Unterdrückten ein und schafft dadurch Erzählraum für die weitreichenden Konsequenzen, mit denen traumatisierte Opfer und Angehörige umgehen müssen. Neben dieser Krimihandlung bietet der Text Einblick in den Stapel von Femizid-Fällen, welche die Staatsanwältin sammelt. Dabei wird das Ausmass der Diskriminierung von Frauen erschreckend anschaulich gemacht: «Wir Frauen sterben wie die Fliegen,» sodass es einem vorkommt «wie eine Brötchenfabrik. Frauen sterben in industriellem Ausmass.» Gleichzeitig ermöglicht die literarische Bearbeitung von Brutalität und Allgegenwärtigkeit von Frauenhass, über die in Medienberichten befriedigte Sensationslust hinauszugehen und die Problematik über den literarischen Text erfahrbar zu machen.

Zur Autorin

Patrícia Melo, geb. 1962 in São Paulo, lebt heute in Lugano. Nach ihrem Studium in São Paulo war sie beim Fernsehen tätig. 1994 debütierte Melo mit ihrem ersten Kriminalroman «Acqua Toffana» (dt. «Ich töte, du stirbst», 2001). Ihr literarisches Werk umfasst Kriminalromane, Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher. Thematisch beschäftigt sich Melo aus einer sozialkritischen Perspektive mit der Gewalt und Kriminalität in Brasiliens Großstädten. Sie ist eine der führendsten Schriftstellerinnen in Lateinamerika und wurde u. a. mit dem Deutschen Krimipreis und dem LiBeraturpreis ausgezeichnet.
Foto: © Júlia Moraes

Die Normalisierung des Unvorstellbaren

Melo arbeitet heraus, wie die Unterdrückung ihren Anfang im soziokulturellen Imaginären nimmt und von dort aus alles überwuchert. «Nichts ist einfacher zu erlernen als Frauenhass. An Lehrern herrscht kein Mangel. Der Vater macht es vor. Der Staat macht es vor. Das Rechtssystem macht es vor. Der Markt. Die Kultur. Die Werbung, […] die Pornografie.» Schockierend ist vor allem die Normalisierung des Unvorstellbaren: Männer, die höflich und nett wirken, begehen brutale Verbrechen. Und das ständig. Und dann kommen die Täter ungeschoren davon. Die Gesellschaft duldet diese Grausamkeit, welche unzähligen Frauen tagtäglich begegnet, und wundert sich noch, dass die ‹netten Männer› zu Derartigem imstande sind. Während die Gesellschaft Diskriminierung von Frauen normalisiert, werden die Täter also umgekehrt verharmlost: sie seien ja sonst so intelligent und aufmerksam, Studenten mit Bestnoten und charmanter Freundin, nette Burschen aus gutem Hause. In den Medien werden sie als Stars und Märtyrer präsentiert, die gar zu bemitleiden sind. Gleichzeitig wird die Frau als ‹femme fatale› dargestellt, die die Schuld für ihre Schändung selber zu verantworten hat.

Schonungslos und eindringlich

Sprachlich und formal spielt Melo mit Wiederholung und Variation, um die verheerende Dimension der Frauenfeindlichkeit in Brasilien zu vertexten. Viele der Schicksale, die sie literarisch verarbeitet, unterscheiden sich zwar im mörderischen Hergang, in ihrer Unentschuldbarkeit, Absurdität und Systematik jedoch sind sie sich erschreckend ähnlich. Die Sprache, die Gestapelte Frauen dafür findet, ist vielseitig – bisweilen direkt und eindringlich. Ohne Weiteres werden mitunter grässliche Fakten ausgespuckt und mit radikaler Schonungslosigkeit abscheuliche Grausamkeiten geschildert. In einem «Fall war der Freund so umsichtig zu warnen: ‹Ich verpasse dir eine Kugel in die Möse.› Und hielt sein Versprechen. pflegte ein anderer Mörder zu sagen, ‹finde ich zuhauf im Schlachterabfall.› Tod durch Ersticken.» Formal setzt sich der Text aus verschiedenen Schnipseln zusammen: Gedankenfetzen, Erinnerungen, Auszüge aus SMS-Nachrichten, Einblicke in Verbrechen, Visionen und Rachephantasien. Dergestalt dienen die collagierten Teile der Beschleunigung der Handlung, erzeugen eine Dringlichkeit und verdichten sich zu einer Abwärtsspirale von immer schlimmeren Belästigungen und Tätlichkeiten. Diese Bruchstücke der Gewalt durchziehen den ganzen Text und beschwören dadurch die Allgegenwart der Bedrohung herauf.

Die Ökonomie der Gewalterzählung

Einzig die Traumwelt, in der die Erzählerin ihren Rachegelüsten nachhängen kann, verschafft eine gewisse Genugtuung. Ansonsten bleibt den Überlebenden und Angehörigen lediglich, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Während innerhalb der Geschichte also keine Lösung für das Problem von Femizid und Misogynie gefunden wird, ist der Lösungsansatz des Romans – Erzählen. Dabei formuliert der Text sein narratologisches Verfahren als ökonomisches Kalkül: Das «Lebensdefizit», welches durch den Mord an einer Frau entsteht, muss dadurch gesühnt werden, dass «ihre Geschichte tausend Mal erzählt und wiedererzählt» wird. Dem wird der Roman gerecht, schreibt er doch vehement gegen das Schweigen, die Vertuschung an und stellt die Schwachstellen der Gesellschaft und des Staats unbeschönigt aus. Gestapelte Frauen ist eine sorgfältig recherchierte Gedenkschrift für die vielen Femizid-Opfer, getreu dem eigenen Motto: Reden ist Silber, «Schweigen ist Mist».

Patrícia Melo: Gestapelte Frauen (übers. v. Barbara Mesquita). 256 Seiten. Zürich: Unionsverlag 2021, ca. 30 Franken.