KW29

Gestörter Krimi

Patrícia Melos «Der Nachbar» ist zwar nicht wirklich ein Krimi, scheut aber nicht vor spektakulären Gewalttaten und beunruhigenden Erkenntnissen.

Von Rahel Staubli
21. Juli 2022

Der Kriminalroman Der Nachbar (2022) der brasilianischen Autorin Patrícia Melos, die im Tessin lebt, scheint auf den ersten Blick so spektakulär wie geläufig: In einer brasilianischen Grossstadt zieht ein neuer Nachbar in die Wohnung oberhalb eines scheinbar harmlosen Biologielehrers. Dieser Nachbar treibt den Biologielehrer mit seinem Gepolter, Gelächter und Gestöhne solange in den Wahnsinn, bis es ihn – den Nachbarn – Kopf und Kragen kostet. Der Roman wurde von Barbara Mesquite übersetzt und ist in einer Neuauflage im Unionsverlag erschienen.

Nicht die Mordtat, sondern die (rechtliche) Schuldfähigkeit des Täters steht allderings im Zentrum des Romans, weshalb man ihn nur schwerlich als “Kriminalroman” bezeichnen kann. Auch die Autorin lehnt es ab, ihre Romane so zu nennen. Die Leser*innen erwartet in Der Nachbar deshalb keine nervenkitzelnde Krimigeschichte, sondern vielmehr ein Tiefgang in die gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Entwicklungen Brasiliens, die gleichwohl erschaudern lassen. Während der deutsche Titel flach wirkt, ist die sozialkritische Dimension im portugiesischen Originaltitel Gog Magog(2017) angedeutet: Er verweist auf die biblische Erzählung zweier Völker, die mit dem Teufel im Bund stehen und gegen Jesus in den Kampf ziehen.

Zur Autorin

Patrícia Melo, geb. 1962 in São Paulo, lebt heute in Lugano. Nach ihrem Studium in São Paulo war sie beim Fernsehen tätig. 1994 debütierte Melo mit ihrem ersten Kriminalroman «Acqua Toffana» (dt. «Ich töte, du stirbst», 2001). Ihr literarisches Werk umfasst Kriminalromane, Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher. Thematisch beschäftigt sich Melo aus einer sozialkritischen Perspektive mit der Gewalt und Kriminalität in Brasiliens Großstädten. Sie ist eine der führendsten Schriftstellerinnen in Lateinamerika und wurde u. a. mit dem Deutschen Krimipreis und dem LiBeraturpreis ausgezeichnet.
Foto: © Júlia Moraes

Erzählt wird in Der Nachbar aus der Ich-Perspektive des Täters. Trotz der Behauptung, er sei eigentlich ein «friedfertiger, ehrlicher Mensch», wird allerspätestens beim Zerstückeln der Leiche klar, dass an diesen Darstellungen etwas nicht stimmen kann. Der Täter führt sich im Erzählen immer wieder ungewollt selbst vor, was einen gewissen Unterhaltungswert provoziert. Er wirkt mit seinen egozentrischen, sexistischen und rassistischen Aussagen zudem sehr unsympathisch. In scheinbar nebensächlichen Anmerkungen dringt jedoch zunehmend seine prekäre Lage durch, in die er nicht erst seit dem kürzlichen Zuzug des Nachbarn geraten ist: Sein Vater hat ihn in der Kindheit verlassen. Seine schlafmittelabhängige Ehefrau betrügt ihn seit drei Jahren, ohne dass er etwas davon bemerkt hat. Erniedrigende und schlecht bezahlte Arbeitsbedingungen versetzen ihn in «Angst und Schrecken» und treiben ihn auf die Strasse an die Lehrerstreiks. Korruption und Gewalt prägen den Alltag des Lehrers – der lärmende Nachbar ist da nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Nach der gewaltsamen Entsorgung der Leiche wird seine Verhaftung sowie der anschliessende Gefängnisaufenthalt und das Gerichtsverfahren ausführlich geschildert. Mit ironischem Unterton wird so eine Entwicklung des Täters gezeichnet, die nachdenklich stimmt: Ein Mann der Mittelschicht, der ausserhalb des Gefängnisses Gewalt und Willkür ausgeliefert ist und (wortwörtlich) gestört wird, beginnt im Gefängnis von denselben Strukturen zu profitieren, findet Ruhe und wirkt gar zufrieden. Unter dem Gesichtspunkt ist die verdrehte Wahrnehmung des Ich-Erzählers und seine überspielte Hilflosigkeit nicht mehr lustig, sondern erschreckend. Zum Schluss hat man fast Mitleid mit dem Täter.

Der deutsche Titel und die Gattungsbezeichnung «Kriminalroman» werden dem Buch nicht gerecht und wecken falsche Erwartungen. Der Roman spielt zwar mit Klischees und Übertreibungen und zieht aus der Vorführung des Täters einen düsteren Humor. All dies und die spektakuläre Gewalttat erscheinen bei näherer Betrachtung jedoch als Ablenkung von dem, was eigentlich schief läuft. Die sozialkritische Dimension des Romans dringt gerade im abschliessenden Gerichtsurteil durch und hinterlässt zum Schluss ein beunruhigendes Gefühl. Wo würde man denn landen, meint der Staatsanwalt in seinem Schlussplädoyer, wenn der Satan sich mit einem psychiatrischen Gutachten einfach für verrückt erklären lassen könnte? Daran reibt sich der Roman.

Patrícia Melo: Der Nachbar. 160 Seiten. Zürich: Unionsverlag 2022, ca. 17 Franken.

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