KW12

Über den Reiz des Fantasierens und den Mut zu neuen Wegen

Es dreht sich wieder, das Liebeskarussell: In «Reiz» begibt sich Simone Meier wieder in ihre angestammte Zürcher Uni-Bernoulli-Langstrasse-Kulisse. Nach «Fleisch» und «Kuss» fährt sie im dritten Teil der einsilbigen Trilogie dort fort, wo sie stehen geblieben war. Stagnation oder kluges Kalkül?

Von Katharina Alder

Die Ausgangslage in Meiers neuem Roman gleicht den beiden Vorgängern: Kraftvoll, bissig, zuweilen aber auch ziemlich einfältig beleuchtete die Autorin in den Romanen Fleisch und Kuss die Selbstfindungs- und Alterungsdramen ihrer Protagonist*innen. Dabei agierte sie sehr klug im Umgang mit gesellschaftlichen Diskursen und fabulierte wohltuende Tagtraum-Sequenzen, die abgeklärt und auch ein bisschen abgedroschen endeten: «Sie würden sich lieben und glauben, es wäre für immer.»

In Reiz richtet Simone Meier den Fokus auf die bereits vertraute Journalistin Valerie, der wir gleich zu Beginn in Form einer Rückblende auf ein Sabbatical in den USA begegnen. 36 Jahre alt und ausgelaugt von ihrer Arbeit, sucht sie einen Ausgleich an der amerikanischen Westküste, der – natürlich – in einer Affäre mit einem Kellner endet. Viele Jahre später findet sie sich in einer Liebelei mit einem deutlich jüngeren Gastro-Unternehmer wieder und richtet sich gleichzeitig gedanklich auf den Lebensabend mit ihrer platonischen Lebensliebe F. in der Bretagne ein. Der zweite Erzählstrang ist Luca gewidmet, dem neunzehnjährigen Sohn von Filmstar F., aufgewachsen bei seiner alleierziehenden Hippie-Mutter, die wiederum in einer Beziehung mit Anna lebt, die ihrerseits ebenfalls mit F., bevor sie dann die ehemalige Mitbewohnerin vom künftigen Mitbewohner von Luca… oder so.

Zur Autorin

Simone Meier, Autorin, Kolumnistin und Kulturredaktorin (WoZ, Tagesanzeiger, aktuell bei watson), kommt, wie fast alle in Zürich, aus dem Aargau. Geboren wurde sie allerdings 1970 in Lausanne. Studium der Germanistik, Amerikanistik und Kunstgeschichte in Basel, Berlin und Zürich. 2000 veröffentlichte sie ihren ersten Roman «Mein Lieb, mein Lieb, mein Leben». Mit «Die Entflammten» legt Meier ihren fünfte Roman vor.
Foto: © Ayse Yavas

Was im ersten Roman durchaus reizvoll, im zweiten gut tolerierbar war, erweist sich nun als völlig überflüssig und literarisches Fallbeil. Meier hält an der mühsam konstruierten Rahmengeschichte fest und nimmt dem Text dadurch recht viel. Das wirkt seltsam verzerrt, denn in Ton und Stimmung hat sie sich in eine andere Richtung entwickelt: ernsthafter der Sound und bedrängender die Themen. Mit zahlreichen Auslassungen und Anspielungen versehen, rückt Meier das Thema des sexuellen Missbrauchs, der sexuellen Erniedrigung unerwartet in den Vordergrund. Durch grandiose Kurzgeschichten innerhalb Lucas Erzählstrang vermag sie zu überzeugen! Dabei spielt sie seit jeher den unbändigen Reiz des Fantasierens aus, diesmal aber nicht ausschliesslich in sexueller Hinsicht, sondern beispielweise in Lucas Spinnereien am Grabstein einer jungen Unbekannten. Doch eben auch unbequeme Themen bringt sie souverän aufs Tapet:

«Ins Gesicht schaute man, mittels Gesicht kommunizierte man, redete, küsste, übers
Gesicht ernährte sich der Mensch und zeigte Gefühle, und dahinter, darüber sass das
Gehirn und dachte sich die Welt aus, und dann kam so ein Blowjob und das irre
Wunder wurde reduziert auf ein Loch, das war doch ein Wahnsinn und irgendwie die
totale Erniedrigung.»

In sprachlicher Hinsicht hat Meier im vorliegenden Roman mächtig zugelegt, was aber keinesfalls einen Mangel bezüglich ihres bisher Geschriebenen meint. Auffällig ist, wie ungemein präzise und eloquent sie hier formidable Sätze aufs Papier zaubert. Grundsätzlich läuft sie beim Beobachten und Kommentieren zu Höchstform auf: Ihr Steckenpferd ist die soziokulturelle Kritik. Dabei haut sie dem westlichen Betroffenheitskitsch, dem «hyperventilierenden» Twitter oder auch dem linksgrünen Ökofaschismus gehörig auf den Deckel. Dies wirkt einerseits wohltuend befreiend, entlarvt andererseits eigene paradoxe Verstrickungen in den ganzen moralisierenden Ideologien-Quatsch.

Zuweilen ist es ein sehr schmaler Grat zwischen klugem Sarkasmus und einem nach Anerkennung heischenden Quoten-Bashing. Unangenehm oft zielt sie auf die «Hipster-Opfer» – ganz allgemein scheinen Hipster das Allerletzte zu sein – oder macht sich ohne kausalen Anlass über Romy Schneiders angeblich unvorteilhaften Unterkiefer lustig. Es wird ein bisschen zu sehr verachtet und durch den Dreck gezogen – Hipster, Hippies, Yuppies, Veganer, Einhörner und Regenbögen –, was auf die Dauer ermüdend ist und selbst zum Klischee zu werden droht. Nichtsdestotrotz kann Reiz mit einigen grossartig geschriebenen Binnenerzählungen aufwarten, die auch ob ihrer analytischen Qualität verblüffen. Leider werden diese durch das Festklammern am bisherigen Erfolgskonzept in den Hintergrund gedrängt. Die herbeigeschriebene Verbindung zwischen den einzelnen Erzählungen und der Rahmengeschichte um die Journalistin Valerie und Luca ist bemüht. Letztere wurde in Reiz zum dritten Mal bedient und ist ohne nennenswerte Weiterentwicklung mittlerweile leider verblasst. So hätte es dem Roman wohl letztlich besser getan, er wäre ein Erzählband geworden.

Simone Meier: Reiz. 240 Seiten. Zürich: Kein & Aber 2021, ca. 28 Franken.

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