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In der Hölle romantischer Empfindungen

Alan Schweingruber im Interview

Kommenden Montag erscheint «Kuss», das neue Buch von Simone Meier. Die Zürcher Autorin legt damit einen weiteren Milieuroman über Liebe, Begehren und menschliches Scheitern vor. Shantala Hummler hat sie getroffen und sich mit ihr über literarische Verfahren, Emanzipation und Trash-TV unterhalten.

Von Redaktion Buchjahr
20. Januar 2019

Hat man deinen letzten Roman «Fleisch» gelesen, wird man einige der Figuren in «Kuss» wiedererkennen. Was hat dich dazu bewogen, ein Sequel zu schreiben?

Das war in erster Linie mein Verlag. Er ermunterte mich, so rasch wie möglich ein nächstes Buch zu schreiben. Meine Lektorin hatte einen Narren an einer der Nebenfiguren aus «Fleisch» gefressen, die ich hingegen eher langweilig fand – aber gut, ich nahm die Herausforderung an und machte sie zu einem Goldküsten-Sprössling mit hehren Ambitionen. Beim letzten Buch hatte ich grossen Spass am Plotten und daran, die Figuren aufeinander loszulassen, komödiantische Wendungen einzubauen, ganz Screwball Comedy. Bei «Kuss» habe ich das Tempo gedrosselt und den Fokus nach Innen verlegt. Liebe sollte das Thema sein, in all ihren unterschiedlichen Schattierungen. Dafür habe ich den Gefühlsraum der Figuren in den Brennpunkt gesetzt und die Handlungsebene zurückgenommen.

Dieser Unterschied kündigt sich ja bereits in der Semantik der beiden Buchtitel an. Inwiefern ist «Kuss» programmatisch für deinen neuen Roman?

Ein Kuss markiert den Anfang der Übersetzung eines Begehrens in etwas Körperliches. Es ist ein Sprung ins kalte Wasser, denn man kann nicht vorhersehen, wie man selbst oder das Gegenüber auf diesen körperlichen Kontakt reagiert. Und doch bleibt ein Kuss undefinierbar, sehr schwebend: Er ist nicht mal ein Anführungszeichen. Viel mehr noch interessierte mich dieser Schwebezustand davor, wenn man jemanden kennenlernt und verliebt ist. Bevor diese Verliebtheit ausgelebt wird – und natürlich auch darüber hinaus –, projiziert man sehr stark und überhöht das Gegenüber. Man produziert eine irre Menge an reiner Fiktion, die mit der Realität wenig bis nichts zu tun hat. Dies wiederum ist ein hoch literarisches Verfahren: Man produziert Geschichten. Mich interessierte, wie sich dieser Prozess literarisch nachzeichnen und blosslegen lässt. Spannend wird es besonders in dem Fall, wenn jemand ganz darauf verzichtet, diesem Begehren reale Taten folgen zu lassen und die Verliebtheit allein in der Sphäre der Imagination ausagiert.

Zur Autorin

Simone Meier, Autorin, Kolumnistin und Kulturredaktorin (WoZ, Tagesanzeiger, aktuell bei watson), kommt, wie fast alle in Zürich, aus dem Aargau. Geboren wurde sie allerdings 1970 in Lausanne. Studium der Germanistik, Amerikanistik und Kunstgeschichte in Basel, Berlin und Zürich. 2000 veröffentlichte sie ihren ersten Roman «Mein Lieb, mein Lieb, mein Leben». Mit «Die Entflammten» legt Meier ihren fünfte Roman vor.
Foto: © Ayse Yavas

In «Kuss» lässt du dieses Begehren zu einer regelrechten Obsession auswachsen: Die Protagonistin verschaut sich in den Arbeitskollegen ihres Partners, der zunehmend zu einer idée fixe für sie wird. Das erinnert an Chris Kraus «I love Dick».

Richtig. Mich interessierte das Krankhafte, das man entwickelt, die pure Obsession. Das findet man sehr schön umgesetzt bei Kraus. Mit den Sozialen Medien lässt sich das heute endlos betreiben und ausdehnen. Man kann seine Mitmenschen geradezu überwachen: Whatsapp, Instagram und Facebook liefern dazu die nötigen Informationen über den geographischen Standort. In der vordigitalen Zeit war das viel weniger zugänglich. Ebenfalls ein bemerkenswertes Phänomen, das die sozialen Medien ermöglichten, sind Virtual Affairs. Dabei haben die beteiligten Personen ausschliesslich virtuellen Kontakt und sicher eine der beiden verliebt sich ernsthaft. Das Thema ist in Psychologie- und Lifestylemedien hoch im Kurs und höchst dramatisch, bestehende Beziehungen gehen daran zu Bruch. Die sozialen Medien erlauben es, neben der Partnerin oder dem Partner zu sitzen und wie in einer Tapetentür unbemerkt gleichzeitig mit einer anderen Person eine Unterhaltung zu führen, weil es gängig ist, dass man am Handy ist.

Da wir bei den sozialen Medien sind: Du nutzt diese ja auch beruflich bedingt sehr aktiv. In «Fleisch» hast du den männlichen Protagonisten sehr lustvoll ins Verderben geschickt und offen über homosexuelle Beziehungen geschrieben. Hat das negative Rückmeldungen wie Hassnachrichten provoziert?

Nein, die privaten Leserinnen und Leser waren alle sehr souverän. Ich habe mit «Kampflesbe»-Ausrufen gerechnet. Hass hat sich eher in ein paar Rezensionen kundgetan.

Einige Rezensenten kreideten dir an, dein Vorgängerroman sei klischiert, die Figuren zu stereotyp gezeichnet. Auch in «Kuss» setzt du auf Überzeichnung als Stilmittel, wenn auch deutlich weniger stark. Was denkst du, wie Parodie oder Satire gelingen können?

Durch ihre Differenz zum anderen. In «Fleisch» ist die Tonalität allgemein auf dem Ironie-Level angesetzt, das von einzelnen Episoden durchbrochen wurde. Das neue Buch verfährt dagegen genau umgekehrt. Die Hauptfiguren sind eher auf der Empfindsamkeits-Ebene angelegt, sie sind ernsthafter. Trotzdem bleibt das Buch aber unterhaltsam, gerade durch den bewussten Einsatz von Comic Relief. Der Schauspieler F. beispielsweise, der bereits im Vorgängerroman vorkommt, ist eine Witzfigur und vollkommen überzeichnet. Doch es braucht ihn als Kontrast zum Narrativ der Protagonistin, die immer tiefer in jene Obsessionsspirale gerät. Ihre Geschichte zu schreiben war schmerzhaft und ich muss einfach auch Spass haben beim Schreiben. Ich habe lange nicht verstanden, dass amerikanische Schauspieler so gerne «Method Acting» machen: Einmal nehmen sie zu, dann hungern sie, sie leben wochenlang in der Wüste etc., um sich in eine Rolle einzufühlen, während etwa britische Schauspieler am liebsten rein analytisch arbeiten. In «Kuss» habe ich mich in tiefere Gefühlsschichten begeben und darin eingefühlt, das war intensiver, auch schmerzhafter.

Exemplarisch kann man eine differenziertere Figurenzeichnung am männlichen Protagonisten Yann nachvollziehen: Seine Gedanken- und Gefühlswelt ist komplexer und auch er erkundet relativ unvoreingenommen seine Lust, auch homoerotischer Art. Zudem treibt ihn ein starker Wertekonflikt um.

Die Männerfigur ist gewiss nuancierter, was auch dadurch bedingt ist, dass er einer anderen Generation angehört. Generell sind die Generationen Y und Z sicher viel genderbewusster und aufgeklärter im Hinblick auf die Vielfalt sexueller Begehren und Identitäten als meine Generation. In der Figur von Yann gerät jene liberale und progressive Weltsicht jedoch in einen Widerstreit mit einer konservativen Sehnsucht nach traditioneller Rollenverteilung, Kleinfamilie und Eigenheim. Und damit ist er sicher kein Einzelfall, sondern trifft ein gesellschaftlich virulentes Thema.

Diesen Konflikt zwischen Emanzipation und konservativen Werten beschäftigt auch den weiblichen Part in dieser Beziehung stark, Gerda. Nachdem ihr der Job gekündigt wurde, zieht sie mit Yann in ein Haus, wird Hausfrau und hadert damit, dass sie einerseits ihre Unabhängigkeit verloren und in eine patriarchale Abhängigkeit gerutscht ist, andererseits aber auch nicht mehr arbeiten möchte. Woran scheitert ihre Emanzipation?

Der Grund für Gerdas Konflikt ist sicher einegesellschaftlich bedingte, patriarchale Sehnsucht nach Familie und Eigenheim – verkörpert durch Yann. Was sie jedoch damit macht, liegt in ihrer Hand. Sie möchte zwar keine Kinder, gleichzeitig geniesst sie die intakte Familie bei Yann sehr und erlebt eine idealisierte Version ihrer Kindheit. In ihrem Fall hängt das auch mit ihrer Familiengeschichte und den prekären Verhältnissen zusammen, in denen sie aufgewachsen ist. Zudem nimmt sie ihre Mutter als unglücklich wahr, auch weil diese ihre Unabhängigkeit durchgestiert hat. Gerda verweigert sich dieser Unabhängigkeit auch aus Widerstand gegen die Mutterfigur. Hinzukommt die berufliche Unsicherheit der Generation Praktikum.

Eine gewisse feministische Programmatik aus «Fleisch», wie die Sichtbarmachung von Begehren jenseits der Heteronormativität oder die Aufwertung negativer Frauenbilder wie das von alternden Frauen, wird in «Kuss» durchaus weitergeführt. Gerade das Motiv der Hausfrau erfährt eine Umwertung von einem Ort der Unterdrückung hin zu einem Ort der Emanzipation.

Enttabuisierung war mir beim letzten Buch viel wichtiger als beim aktuellen. Aber ich bin immer schon Feministin gewesen. Männer können über sich, ihre Körper, ihre Hässlichkeit und ihr sehr pornographisch dargestelltes Begehrens, schreiben und werden dafür gefeiert. Das Phänomen «Houellebecq» gibt es ja schon länger. Das Spannende am Schauplatz des Hauses fand ich, dass er der Frauenfigur die Möglichkeit gibt, ihren eigenen Raum zu bauen. Einerseits nach aussen, indem sie das Haus umgestaltet, andererseits ist es ein virtueller Raum der Selbstverwirklichung. Es gelingt ihr aber weder gesellschaftlich noch emotional sich zu emanzipieren. Sie ist gefangen in der Hölle romantischer Empfindungen, was sehr altmodisch ist. Nichtsdestotrotz ist es ein grossartiger Topos der Literaturgeschichte.

Die wahnsinnige Frau ist ja ein kultureller Topos. Gerade in Verbindung mit dem Schauplatz Haus drängt sich ein spezifischer Intertext förmlich auf: «The Yellow Wallpaper» von Charlotte Perkins Gilman.

Als Metapher hatte ich den Text noch im Kopf, hatte ihn aber während des Schreibprozesses nicht vor mir. Wesentlich präsenter war mir ein Krimi von Tana French mit dem Namen «Broken Harbour». Es handelt von einem Mann, der mit seiner Familie ein Haus bezieht und langsam in den Wahnsinn abrutscht. Er bohrt Löcher in die Wand, stellt Kameras vor die Löcher in der Überzeugung, dass darin Tiere leben. Sukzessive zerstört er damit Haus und Familie. Ich fand diese Beschäftigung mit dem Haus sehr eindrücklich.Auch Gerda möchte mit dem Haus verschmelzen und eigentlich wird es zu ihrem realsten Partner.Der Schluss soll deshalb keine Zerstörung des Hauses sein, vielmehr möchte Sie eins werden mit der Wand. Sie hat zu dem Zeitpunkt erkannt, dass weder ihr Partner noch die Fantasie mehr Alternativen sind.

Steckt hinter dieser Erzählung ein gesellschaftskritischer Impetus?

Das ist kein gesellschaftskritisches Buch. Ich arbeite in einem Umfeld mit vielen jungen Menschen und klar beobachte ich sehr viel Unsicherheiten und Sehnsucht danach, eine Familie zu gründen. Man lebt viel länger zu Hause, für mich unvorstellbar, für sie absolute Normalität, sie fühlen sich wohl so, ich finde das etwas konservativ. Aber vielleicht ist es eine gute Überlebensstrategie, denn die Welt ist schrecklich. Sicher mache ich gesellschaftskritische Beobachtungen, aber es ist nicht der Grundtenor des Buches. Mir ging es um die sehr fragilen Möglichkeiten der Verschiebung von Sehnsucht und Begehren im realen wie auch virtuellen Raum, wie sich das überlagert. Wenn sich die anderen Fragen stellen, umso besser.

Das Buch ist ja auch eine Art Milieustudie des Bildungsbürgertums und des Kulturbetriebs.

Absolut! Die Szene fasziniert mich. Egal ob man sie in New York, Berlin, London oder Paris betrachtet, die Strukturen haben Ähnlichkeit, ihre Geschichten sind für mich angenehm soapig. «Anna Karenina» beispielsweise war bestimmt auch so ein Erfolg, weil sich so viele Leute aus dem gutbürgerlichen Milieu darin wiedergefunden haben und das gesellschaftliche Gefüge als ihr eigenes erkannt haben, und zwar über die Landesgrenzen hinaus. All die grossen Stadtromane wurden doch für eine tendenziell urbane Klientel geschrieben. Man könnte sagen: Das ist doch langweilig. Aber ich muss das, worüber ich schreibe, genau kennen, die Recherche dahinter muss stimmen. Ich könnte keine Science-Fiction schreiben, da ich mich zu wenig in die Figuren oder den Schauplatz hineindenken kann. Das bedingt, dass die Welt, die mir zur Verfügung steht, zwar klein ist. Aber für mich ist sie unerschöpflich. Ich habe sie wahnsinnig gerne.

Über die Erzählperspektiven zeichnest du in «Kuss» eine durch und durch kompetitive Welt: Die Figuren scheinen ihre Umwelt als in beständigem Wettstreit wahrzunehmen, in dem sie bestehen müssen. Sie taxieren dauernd ihre Mitmenschen, vergleichen sich und müssen sich ihren Status unablässig rückversichern. Siehst du das als ein spezifisches Merkmal der Kultur in diesem Milieu?

Ich denke, das ist ein allgemeines Phänomen unserer Like-Unlike-Gesellschaft. Die Menschen haben ganz klare Vorstellungen davon, ob jemand den gesamtgesellschaftlichen oder den eigenen Normen entspricht und fällen klare, harte Urteile. Tinder ist dafür paradigmatisch. Ich glaube, das Klima ist härter geworden, in städtische Umgebungen noch viel stärker als in ländlichen. Obwohl es natürlich auf dem Land auch Normen gibt, spielen Statussymbole eine viel kleinere Rolle. In der Stadt zählt, wie man sich als Individuum hervortun kann und ob man als Alpha-Individuum anerkannt wird, während auf dem Land die gesellschaftliche Integration im Vordergrund steht.

Nebst der Kulturszene thematisierst du auch ein zeitgenössisches Sendeformat: Trash-TV. Als Journalistin schreibst du regelmässig Kolumnen über Trash-TV-Shows wie «Bachelor». Jenseits von Voyeurismus und Unterhaltungslust: Was interessiert dich daran?

Trash-TV zieht eine beachtliche Anzahl an sogenannt gebildetem oder intellektuellem Publikum an. Für mich ist es das blanke Erstaunen, ein Entsetzen darüber, wie irrational und unwissend, wie komplett weltfremd man sein kann. Es werden Menschen gezeigt, die für eine fixe Idee, einen Traum, oder Spleen bereit sind, alles aufzugeben. Sie gehen irgendwohin, wo sie häufig die Sprache nicht mal sprechen und sind davon überzeugt: das funktioniert. Für unsere verunsicherte Gesellschaft ist es der Hit zuzuschauen, wie Menschen, die vernünftig und normal erscheinen, ins offene Messer des Scheiterns rennen. Schlussendlich ist es ebendiese Irrationalität, die bei Gerda zum Ausbruch kommt. Natürlich kann man kritisch einwerfen, dass das klassisches Hartz-IV-Fernsehen ist: Man kann die eigene prekäre Lage verdrängen und sich im Abgleich souverän fühlen. Doch ich finde es einfach sehr unterhaltsam.

Das heisst, wir dürfen in Zukunft wieder eine Geschichte über das Scheitern erwarten?

Definitiv! Ich habe da bereits eine Geschichte im Sinn, sie trägt den Arbeitstitel «Geld». Mehr verrate ich aber noch nicht.

Das Gespräch führte Shantala Hummler.

Simone Meier: Kuss. 256 Seiten. Zürich / Berlin: Kein & Aber 2019, 28 CHF. Buchvernissage: 5.3.2019 im Kaufleuten

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