KW02

«Ich erzeuge gerne Gefühle in Technicolor»

30c923036f047de71acf35568d927b24

Am 31. Januar erscheint bei Kein & Aber Simone Meiers zweiter Roman «Fleisch». Das Schweizer Buchjahr sprach mit der Autorin über Essen, Sex und Internet. Und über Mitbewohner, die keine Miete zahlen.

Von Redaktion Buchjahr
9. Januar 2017

Der Titel Deines Romans ist ja doppelt konnotiert: «Fleisch» steht einerseits für das, was man isst, andererseits für das, was man begehrt, das Fleisch des oder der anderen. Wie verbinden sich in Deiner Vorstellung Essen und Sex?

Essen ist ja mitunter eine Sublimation von Sex. Wenn die Leute in «Fleisch» wenig oder gar keinen Sex haben, dann essen sie viel. Es handelt sich um zwei Tätigkeiten, in deren Zentrum der physisch erlebbare Genuss steht und die daher miteinander korrespondieren.

Nun ist Fleisch ja aber eben nicht nur irgendeine Nahrung, sondern hat mittlerweile auch Distinktionsqualität…

Ich bin ein Fleisch-Fan. Diese neue Verbotskultur im Sinne von «Fleisch essen ist das neue Rauchen» geht mir wahnsinnig auf die Nerven. Da kommt in mir so ein Robert Pfaller’scher Reflex hoch. Fleisch essen ist etwas Tolles, etwas Lustvolles. Foie gras und Markbein gehören doch zu den grössten Köstlichkeiten überhaupt. Zudem sind die grossen kulinarischen Regionen Europas – Frankreich, Italien, Spanien – allesamt traditionelle und hoch virtuose Fleischküchen. Würde ich in Asien leben, könnte ich mir eher vorstellen, Vegetarierin zu sein.

Zur Autorin

Simone Meier, Autorin, Kolumnistin und Kulturredaktorin (WoZ, Tagesanzeiger, aktuell bei watson), kommt, wie fast alle in Zürich, aus dem Aargau. Geboren wurde sie allerdings 1970 in Lausanne. Studium der Germanistik, Amerikanistik und Kunstgeschichte in Basel, Berlin und Zürich. 2000 veröffentlichte sie ihren ersten Roman «Mein Lieb, mein Lieb, mein Leben». Mit «Die Entflammten» legt Meier ihren fünfte Roman vor.
Foto: © Ayse Yavas

Unterdessen ist Han Kangs «Vegetarierin» gerade in aller Munde.

Ein Weltbestseller, ja. Ich wollte es lesen, habe es aber dann gelassen. Die ganzen «Ich trink’ nicht mehr, ich ess’ kein Fleisch mehr etc.»-Lebensentwürfe sind ja frustrierend inflationär. Ich sehe da in erster Linie neoliberal optimierte Konzepte dahinter, bei denen es um eine Entsündigung des Lebens geht. Das ist doch furchtbar lustfeindlich.

Interessant ist ja, dass Dein Roman über diese Verbindung von Essen und Körperlichkeit zugleich auch die sexuelle Selbstbestimmung der Frau verhandelt. Er steht damit ja auch in einer guten Schweizer Tradition: Auch der «Urtext» des Schweizer Feminismus, Verena Stefans «Häutungen», nähert sich ja metonymisch im Titel dem Fleisch an. Aber da lag der Weg zur Selbstbestimmung ja vielmehr in einer Askesis, eben: im Abschälen der Körperlichkeit und der mit ihr verknüpften Sprache.

In meinem Roman geht es eher um experimentelle sexuelle Erweiterungen; das sind alles Hedonisten.

Also läge die Gegenwart und Zukunft der weiblichen Sexualität in einer konsumistischen Ermächtigung?

Nein, das wäre mir jetzt zu viel «Sex and the City». Es geht eher darum, das ganze fluide Feld der entgrenzten Geschlechternormen, das heute omnipräsent ist, spielbar zu machen.

Allerdings ist es ja doch so, dass dieses Spiel, auf das sich insbesondere Anna, die ältere der beiden Hauptfiguren einlässt, in einem Roman der frühen 1980er deutlich anders motiviert gewesen wäre, oder?

Bei mir fehlt im Vergleich zu früher der Leidensdruck. Es gibt in «Fleisch» ja keine existenzielle Notwendigkeit, diese neue sexuelle Identität umzusetzen. In dem Sinne ist das auch keine Midlife-Crisis, sondern eher ein Midlife-Experiment. Und man schaut, was sich Positives aus diesem Experiment entwickeln könnte. Die Krise vollzieht sich auf der anderen Seite, beim Mann. Bei dem geht ja im Gegenzug alles bachab. Im Vergleich zu früher ist aber auch der Druck auf den Umgang mit Weiblichkeit, mit Körperlichkeit ein ganz anderer. Früher wollte man sich von innen heraus befreien, um bei den kulinarischen Bildern zu bleiben, vergleich ich das mal mit einem Dampfkochtopf. Heute kommt der Druck gesteigert von aussen. Deshalb beginnt «Fleisch» mit einer zwar komischen, aber durchaus ernstgemeinten Reflexion über den Körper, über Schönheits-OPs – und das ist ja ein Druck, der heute auch medial vermittelt wird, über immer extremere Schönheitsideale, die gerade über die digitalen Kanäle immer dichter an einen heranrücken. Früher ging man zum Coiffeur, hat dort in den Zeitschriften irgendwas über die Schönheitsgeheimnisse der Stars gelesen und war danach einen Monat lang wieder unbehelligt.

Soziale Medien sind überhaupt sehr präsent in Deinem Roman. Das Raster, mit dem diese Medien arbeiten, sind Profile, also Identitätskonstrukte, die vor zwanzig Jahren vornehmlich im Bereich der Kriminalistik zu finden waren. Sind das die Raster, ohne welche nicht nur Liebesromane, sondern auch überhaupt Liebesgeschichten im 21. Jahrhundert nicht mehr geschrieben werden können?

Sprechen wir von Daniel Glattauer? In der Tat kommt man um die Digitalität nicht mehr herum. Das Resultat ist natürlich eine Verkürzung der zwischenmenschlichen Wege und folglich beeinflusst das auch die Art und Weise, wie wir Liebe erleben und erzählen. Wir suchen eben, was «passt».

Konzipiert man in einer solchen Welt auch seine Figuren über Profile? Indem man Lebenswelten über Rahmendaten konstruiert?

Hat man das denn früher nicht getan? Umgekehrt wird es vielleicht interessanter, also mit Blick auf die Art und Weise, wie man sich selbst als Figur inszeniert. Auf die Möglichkeiten der digitalen Performance. Als Online-Journalistin werde ich ja an dieser Performance ständig gemessen und überprüft. Und meine «private» Aktivität auf den Social-Media-Kanälen wird im sogenannten «Klout Score» erfasst. Der hat einen sozialen und ökonomischen Wert und kann mitunter auch ein Einstellungsgrund sein.

Aber, um noch einmal auf die Literatur zurückzukommen: Wie gestaltet sich vor diesem Hintergrund das Verhältnis von Subjekt und Text?

Das ist natürlich in gesteigerter Form virtuell. Gesteigert deswegen, weil das auf die Lebensschrift übergeht. Wenn eine meiner Figuren, Max, Mails schreibt, mit denen er seine Beziehung beendet, die er aber nicht abschickt, sich bisweilen aber nicht einmal sicher ist, ob er sie jetzt abgeschickt hat oder nicht – dann zeigt sich darin natürlich auch so etwas wie eine virtuelle Lebensführung. Wenn man früher per Abschiedsbrief eine Beziehung beendet hat, dann führte man in dem Moment, in dem der Brief im Postkasten verschwand, ein anderes Leben.

Digitalität eröffnet also schon vielleicht nicht genau bestimmbare, aber lebbare Wege in die Mehrspurigkeit von Beziehungen?

Vermutlich. Man kann also – wie man das in meinem Text ja auch findet – anfangen, so zu leben, als ob man sich getrennt hätte, ohne dass die Partnerin etwas davon erfährt. Komplementär gibt es dann das Phänomen der falsch adressierten SMS, die durchaus verheerende Folgen für das Leben des falsch Adressierten hat, die aber gar nicht ins Bewusstsein der Absenderin treten können.

Als Gegenpol zum virtuellen Schreiben tritt in Deinem Roman das körperhafte Schreiben, das «Sich-ins-Fleisch-ritzen».

Ja, die einen gehen zum Schönheitschirurgen, und die anderen greifen selbst zum Messer. Das sind beides Wege, mit dieser körperlichen Unzufriedenheit umzugehen. Das Letztere, also das Ritzen, ist ja ein sich stetig verstärkender Trend, nicht zuletzt infolge der entsprechenden Plattformen und Communities im Netz. Ich bin wirklich froh, heute kein Teenager sein zu müssen, das würde mich alles ansprechen.

Interessanterweise ist der Jugendliche, der sich ritzt, zugleich auch genau die Figur, die gerade nicht mailt, sondern Briefe schreibt…

… und seine Körperlichkeit dadurch natürlich auch am radikalsten verbürgt, mit Exkrementen malt, streng riecht – wie Teenager das halt tun.

Da sie in Deinem Roman nicht nur einmal auftaucht: Welche Signifikanz hat im zeitgenössischen Geschlechterdiskurs eigentlich die Formel «Knausgård»?

Für mich der langweiligste Schriftsteller, den es gibt, der kommt gerade noch vor Elena Ferrante. Ich habe versucht, das zu lesen, weil mich Bestseller interessieren. Und vor allem, weil ich gemerkt habe, dass viele meiner männlichen Bekannten, sich in einem Masse mit Knausgård identifiziert haben, wie ich das noch nie gesehen habe. Ich habe es versucht, aber nach 70 Seiten aufgegeben. Diese 70 Seiten waren das Protokoll einer unzufriedenen männlichen Durchschnittsexistenz, zugleich aber arrogant und unfair den Leuten gegenüber, mit denen er seine Zeit verbringt. Zutiefst unsympathisch. Aber eben: Für die Männer um mich herum war das ganz wichtig. Das war Zuflucht.

Zuflucht wovor?

Bei Knausgård fühlten sie sich verstanden. Ich denke oft: Wenn einer heute ein heterosexueller weisser Familienmann und sensibel ist, also kein Donald Trump, dann muss er sich schon ganz viele Fragen stellen, die er sich früher nicht stellen musste und ganz viele Kompromisse eingehen, die beispielsweise sein Vater nicht eingehen musste. Er muss sich sehr radikal von alten Rollenvorbildern trennen, denen er vielleicht gerne gefolgt wäre. Und diese Wehmut ist bei Knausgård aufgespeichert. Sag ich nach 70 Seiten …

Bei Max, der Figur, die geradezu klopstockhaft Knausgård herbeizitiert, gehört dann auch die GQ-Lektüre dazu.

GQ ist eine Festung dieses alten Rollenbildes, samt kerniger Möbel und schöner Pin-Ups. Das ist schon sehr klassisch. Da werden keine Gender-Theorien diskutiert.

Kann ein Knausgård- und GQ-Leser wie Max in der Welt von heute überleben?

Schwierig. Ich sage es mal so: Je älter Max wird, umso altmodischer sind die Visionen, die er von sich hat. Die Beziehungen, die er eingeht, führen alle zu nichts. Die Frau, deren zeitweiliger Lebensgefährte er wird, kann ihm gar nicht Familie werden. Die Frau, die er dafür bezahlt, dass sie gelegentlich mit ihm schläft, hält er pygmalionhaft für seine Kreatur, während sie selbst in einer ganz anderen Welt lebt, in der er gar nicht vorkommt. Aus diesem vollumfänglichen Scheitern ergibt sich dann der Selbsthass, der ja dann auch körperlich wird.

Das geht dann sogar bis zu einer symbolischen Kastration.

Die ganzen Max-Kapitel bilden ja diese fortschreitende Entmannung ab. Begleitet wird sie durch sich stetig steigernde Rettungsversuche der männlichen Identität: Italienreise, James Bond-Fantasien, die Vorstellung, Autor zu werden. Zu Letzterem muss ich sagen: Alle Frauen, die mich im letzten Jahr gefragt haben, was ich so treibe, haben auf die Antwort «Ich schreibe gerade ein Buch» immer mit einem «Das könnte ich nie neben der Arbeit» reagiert. Die Männer hingegen: «Ach, das könnte ich auch mal probieren.» Die trauten sich das alle so ganz nonchalant zu.

Eine weitere, vielleicht noch interessantere Beobachtung ist ja die, dass man hier nicht einfach einen Charakter vor sich hat, der sich nur in alte Rollenbilder einkapselt, sondern der auch immer schon weiss, dass er das gerade tut, dass er also Vergangenes zitiert. Das gilt ja aber nicht nur für den Mann: Überhaupt gewinnt man den Eindruck, als sei der gesamte Geschlechterdiskurs selbst nur noch als Zitat lebbar.

Richtig. Fangen wir einmal so an: Mein erstes Ziel war, dass ich einen lustigen Roman schreiben wollte. Mein erster Roman ist ja fast zwanzig Jahre her, und zu der Zeit war man hinsichtlich dieser ganzen Geschlechterdiskurse in so einer melodramatischen Phase. Alles war sehr ernst und essentiell und hat einen immer unmittelbar betroffen. Heute sind schreibende Frauen ja an einem anderen, viel leichteren Punkt. Aber vielleicht lese ich auch nur die leichten.

Etwas präziser?

Ich kam direkt von der Uni, hatte ganz viel Jelinek gelesen, und wenn ich mal etwas Amüsantes wollte, da las ich Virginia Woolf. Seither haben sich meine Lesegewohnheiten sehr verändert, sind  viel englischer und amerikanischer geworden, sehr viel «populärer». Ich liebe Stephen King – gut, der ist jetzt keine Frau, aber die Schreibperson, von der ich am liebsten adoptiert werden möchte. Ich liebe Hilary Mantel, allerdings nicht die historischen Romane, ich lese alles von Sue Townsend, Gillian Flynn und Tana French, aber auch die ganzen uralten englischen Krimifrauen oder die grossartige Margaret Millar aus den 50er-Jahren. Ich halte auch Zadie Smith für eine unglaublich amüsante Autorin. Das Gleiche gilt für die Romane von Eugenides.

Also «Middlesex»?

Nein, das mag ich nicht so sehr. Der Griechenland-Teil von «Middlesex», ist mir zu barock, ich mag nur den amerikanischen Teil. Aber «The Virgin Suicides» finde ich super und das neue, «The Marriage Plot», ist grossartig. Das Buch aber, das mich dazu bewogen hat, selbst wieder eines anzufangen, war das letzte von Miranda July, «The First Bad Man. Auch da geht es ja um eine Frau Anfang 40, eine total surreale Figur, völlig übertrieben in alle Richtungen. Mit ihr werden die heutigen Möglichkeiten des Geschlechterspiels durchexerziert – grossartig. Als ich das gelesen hatte, dachte ich: Gut, soweit kann man also heute gehen – und es funktioniert.

Siehst Du Deinen Text irgendwo im Umkreis von «Feuchtgebiete»?

Das lese ich schon gerne, auch wenn ich es bevorzuge, wenn ein Text ein bisschen mehr Dramaturgie, Figuren oder Winkelzüge hat. Abseits der ganzen Obszönitäten und im Windschatten der erweiterten Kampfzone «Körperlichkeit» ist «Feuchtgebiete» ja auch eine sehr, sehr rührende Liebesgeschichte. Und natürlich sehr lustig. Sicherlich nicht meine Lieblingsliteratur, aber als Frau wie als Autorin kann man sich da nach der Lektüre sehr befreit fühlen und denken, «okay, das ist jetzt also auch schon Mainstream». Darf ich noch was zum Thema Gender-Theorie und Mainstream sagen?

Natürlich.

Das Verrückte ist doch, dass diese ganzen Gender-Theorien und leicht verquälten Körper- und-Weiblichkeits-Obsessionen der 1980er und 1990er vielen Frauen einen idealen und sehr erfolgreichen Einstieg in drei absolute Mainstream-Literatur-Genres boten. Nämlich Crime Fiction/Horror, Erotik/Porno und Comedy. Bücher wie «Gone Girl», «Fifty Shades of Grey» und «Bridget Jones» sind dafür typisch. Alle drei performen unterschiedliche Schattierungen feministischer Selbstermächtigung.

Uns ist beim Lesen der Schluss des 23. Kapitels aufgefallen: «Wie F. dabei gerochen hatte, das wusste Anna jetzt wieder ganz genau. Nach dem ersten Sonnenuntergang eines Sommers.» Das ist doch Uta Danella?

Nichts gegen Uta Danella! «Der dunkle Strom» war mein Lieblingsbuch als Teenie…  Aber ja, natürlich, totaler Kitsch. Dieser F., um den es da geht, spielt ja auch in Rosamunde Pilcher-Filmen mit.

Also reflektierter Kitsch?

Ja, aber ich muss schon sagen, dass ich Kitsch eigentlich mag.

Was war das nochmal, Kitsch?

Kitsch ist etwas unfassbar Schillerndes: Den einen treibt er Tränen in die Augen, weil sie ihn für einen übersteigerten Idealzustand halten, die anderen müssen lachen, weil er für sie nichts anderes ist als übersteigerte Sentimentalität. Ich liebe Kitsch als bewusst eingesetztes Stilmittel sehr. Auch in meinen Artikeln. Deswegen schreibe ich auch am liebsten Nachrufe. Die Leute sollen weinen, wenn sie das lesen. Ich erzeuge gerne Gefühle in Technicolor.

Aber funktioniert das in der Welt Deines Romans noch? Es ist ja dann eben doch, wie Du sagst, eine «gewusste», vielfach gebrochene Sentimentalität. Die Frau, aus deren Perspektive das geschrieben ist, kann den «ersten Sonnenuntergang eines Sommers» in dieser übertriebenen Synästhetik doch eigentlich nicht denken, ohne dass sie gleich darüber lachen muss.

Ja, wohl schon, aber ein wenig funktioniert es ja doch. Man hat das Bild ja zumindest im Kopf. Und was die Synästhetik betrifft: Es gibt ja mehrmals im Roman eine Traumsequenz, in der Anna mit dem Auto durch eine heisse leere Landschaft fährt, mit einer Frau an ihrer Seite. Beim Versuch, die Farben dieses Traumes präzise zu beschreiben, habe ich da ganz bewusst versucht, Anleihen beim Meister des Melodrams zu machen, bei Douglas Sirk, bei dem die Farben auch immer viel zu sehr leuchten und zu kräftig sind, obwohl die Handlung dafür eher karg ist. Es gibt da immer diese ästhetische Überhöhung, die Geschichten sind nie so spektakulär wie das Gewand, in das sie gesteckt werden. Solche Mechanismen finden sich natürlich auch in «Fleisch».

Also ist es ein Kulissenroman?

Ja, klar, es sind Kulissen, durch die diese Figuren durchlaufen oder fahren.

Und die bewohnt sind von Kakerlaken. Das sind ja klassische, stark sexualisierte Es-Geschöpfe,  die mit ungezügelter Fortpflanzung assoziiert werden und die Bewohner Deines Textes heimsuchen.

Ehrlich? Das ist eine tolle Interpretation, die ich ab sofort überall verwenden werde. Ich habe die Kakerlaken bis eben nicht auch noch mit Sex in Verbindung gebracht…  Sie gehören einerseits zum WG-Leben, sind eine Art unvermeidlicher Mitbewohner. Und dann sind sie auch hartnäckige Zeugen eines alten Stücks Stadt, das demnächst einmal der Gentrifizierung zum Opfer fallen wird.

Nun ja, wir reden von Ungeziefer. Geht es da nicht auch um die Triebe, die einen immer wieder heimsuchen und uns mitteilen, dass wir irgendetwas übersehen haben – nicht nur in der WG-Küche, sondern auch zwischen den Seiten von Schulbüchern beispielsweise?

Vielleicht. Es gibt ja diese Szene, in der Lilly, die jüngste der drei Hauptfiguren, in der Küche einschläft und das letzte, was sie beim Wegdämmern spürt, ist das Kratzen der Kakerlaken-Füsse auf ihren Handgelenken.

Und was heisst das?

Das ist Trost.

Das Gespräch führten Ladina Caduff und Philipp Theisohn.

Simone Meier: Fleisch. Roman. 256 Seiten.Zürich / Berlin: Kein & Aber 2017.