KW28

On the Road

Jessica Jurassica hat einen rauschhaften Emanzipationsroman geschrieben, der beweist, dass mit ihr auch in Zukunft auf Romanlänge zu rechnen ist.

Von Silvan Preisig
12. Juli 2021

Coming-of-Age

Umgeben von einer «seltsam riechenden Wohnung» in einer «seltsam riechenden Haut» gibt sich die Erzählerin von Das Ideal des Kaputten ihren depressiven Gedanken hin, die sie fälschlicherweise für das Erwachsenwerden hält. So beginnt der Debütroman von Jessica Jurassica. Am Ende ist die Depression der Erzählerin weg, dafür ist das Virus da. Dazwischen liegen zwei Jahre, in denen sie vom Schweizer Literaturbetrieb gehypt wird, in denen sie die Leserschaft auf Reisen in die Vergangenheit mitnimmt und vor allem auf die Suche nach sich selbst. Es ist ein Coming-of-Age Roman, bei dem die Leser*innen die Erzählerin auf ihrem Weg zur Romanautorin begleiten dürfen. Erzählt wird diese biographische Entwicklungsgeschichte in zu einer Textcollage verfugten Erinnerungsfetzen, wobei die Autorin geschickt zwischen verschiedenen Textgattungen wie Briefen, Mails oder Lyrics wechselt. Treu dem Collagenprinzip vermischen sich die Stillagen – viel Subkultur, kleinere Dosen autorisierte Hochkultur und intellektuelle Gesellschaftskritik – und lassen Versatzstücke aus Cloudrap, Dostojewski, Siri-Hustvedt, Portishead zu einem zeitgeistigen Ausdruck des alles-immer-verfügbar-Habens verschmelzen. Die Vorstellung, wie die etwas älteren Leser*innen bei der Lektüre stirnrunzelnd zum Smartphone greifen und diesen kleinen Uzi Vert googeln, ist allemal lustig. Was sich durchzieht, ist die Reflexion über das eigene Schreiben. Verstärkt wird dieses fragmentarische Verfahren durch die leitthematisch wirkende Schilderung rauschhafter Drogen- und Sex-Erlebnisse. Am eindrücklichsten zeugt davon die Episode eines Ayahuasca Trips, von dem die Erzählerin wiederholt berichtet: «Die Geräusche explodierten. Was ich sah glich nur noch entfernt einer Landschaft, war verdreht und in Fragmente zerstückelt, die alle um sich selbst rotierten».

Zur Autorin

Jessica Jurassica (Pesudonym), geb. ca. 1993, aufgewachsen im Appenzellerland, lebt heute in Bern. Sie ist Performerin, Cloud-Literatin und Medienkünstlerin. Ein breites Medienecho erfuhr Jurassica erstmals 2020 mit ihrer satirischen Erzählung «Die verbotenste Frucht im Bundeshaus. Eine erotische Fan-Fiction» (erschienen bei «die yungen huren dot hiv»). «Das Ideal des Kaputten» ist ihr erster Roman.
Foto: © Christoph Ruckstuhl

Keine Spielerfrau

Wer Jessica Jurassica bereits aus den sozialen Medien kennt, wundert sich kaum über Slang-Begriffe wie «Fuckboys» oder «Ghosting», die den Meisten geläufig sein sollten und doch bislang kaum Eingang in die literarische Textlandschaft der Schweiz gefunden haben. Dabei reiht sich der Roman mit Stilmitteln wie der Verwendung von Alltagssprache, dem Kompositionsprinzip der Collage, sowie dem Spiel mit der Autorfiktion unverkennbar in die Tradition der Popliteratur ein. Erfrischend schonungslos werden die Fragen nach Authentizität oder Inszenierung ignoriert, ganz nach dem Wiener Vorbild Stefanie Sargnagel. Konsequent wird die Inszenierung immer schon mitgedacht und kann für die Lektüre getrost ausgeblendet werden. «Es ist nicht eine autofiktionale Erzählung einer realen Person, sondern eine autobiographische Erzählung einer fiktiven Person» – so die Autorin in einem Interview. Die Erzählerin selbst verortet ihren Text zwischen Alfred Sohn-Rethel, von dem sie den Titel übernimmt, Jack Kerouac, Helene Hegemann und Tom Kummer.  In vielen Aspekten gemahnt die Protagonistin mitunter an den Antihelden aus Christian Krachts Faserland – Drogen, endlose Rastlosigkeit und das Motiv der Selbstsuche knüpfen stark an den einschlägigen Roman der 90er-Popwelle an. Im Gegensatz zu Krachts durchwegs hedonistischem Protagonisten ist die Haltung der Erzählerin in diesem Roman zum Glück deutlich politischer und gesellschaftskritischer. In den besten Passagen von Das Ideal des Kaputten werden Peter Stamm als Symbol für romantisierte Misogynie abserviert und die Rolle der jungen Frau im männerdominierten Kulturbetrieb durchleuchtet. So muss sie plötzlich feststellen, dass sie geworden ist, was sie nie hatte sein wollen: «die Muse. Das Girl, das bei jeder Show dabei ist. Die Spielerfrau auf der Tribüne». In Form von episodenhaften Sequenzen, die erinnernd reflexiv kommentiert werden, lässt die Protagonistin die Leser*innen an ihrem persönlichen Emanzipationsprozess teilhaben, der immer auch ein kollektiver ist. Dabei liegt die Stärke des Textes darin, dass er eine Balance zwischen Empörung, feministischen Lösungsvorschlägen und der spürbaren Verletzlichkeit der Erzählerin herzustellen vermag.

Literatur und Cloudrap

Was der Text letztlich vermissen lässt, ist die letzte Konsequenz – die Entscheidung, was er letztlich sein möchte. In Bezug auf den Literaturbetrieb kommentiert die Erzählerin, sie wolle ein System stören, um es verstehen zu lernen. Dem Text selber ist dieser Ansatz nur teilweise gelungen, spürbar ist in erster Linie das stete Ringen um Individualität, Anarchismus und Anerkennung. Wenn die Erzählerin sich über das hippe Nightlife in Zürich auslässt, ist sie sich bewusst, genau dort selbst stattzufinden. Auch wenn man ihr dieses Ringen durchaus abnimmt, wird diese Schlaufe mit der Zeit etwas ermüdend. Am Schluss kommt die Erzählerin in genau jenem Literaturbetrieb an, von dem sie sich erst – und immer noch – distanzieren wollte. Als Legitimation für die Veröffentlichung des Romans muss letztlich der finanzielle Engpass durch die Coronakrise herhalten. Und auch wenn die fiktive Person Jessica Jurassica selbst sagt, dass es in der Schweiz so etwas wie Berühmtheit nicht geben kann, ist sie auf bestem Weg dahin. Denn sie trifft einen Puls. Wenn sie so weitermacht, wird sie ihn noch oft treffen. Das wäre nicht das Verkehrteste.

Jessica Jurassica: Das Ideal des Kaputten. 128 Seiten. Zürich: lector books, ca. 26 Franken.

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