KW25

«Sprache stiftet Gemeinschaft, ein Haus, in dem zu wohnen ist.»

Ende Oktober letzten Jahres erschien Urs Faes Roman «Untertags». Ein Gespräch mit dem Autor über Sprachverlust, Demenz und der Literarizität dementen Sprechens.

Von Redaktion
21. Juni 2021

Herr Faes, in Ihrem neuesten Roman Untertags spielt Demenz eine zentrale Rolle. Ist es ein Demenzroman?

Erzählt wird eine späte Liebesgeschichte: Ein Mann und eine Frau – Jakov und Herta – lernen sich kennen und lassen sich nach einem schon gelebten Leben aufeinander ein, eine späte Liebesgeschichte. Liebe ist immer eine Form von Lebendigsein und Aufbruch, von Natalität, wie Hannah Arendt sagt; sie ist aber auch stets gefährdet – ein klassisches Thema der Literatur. Nach erfüllten gelebten Jahren kündigt sich die Gefährdung hier leise, fast unbemerkt an, indem Jakov nach und nach ein bisschen vergesslich wird, Wörter zu verlieren beginnt. Das Wort «Demenz» kommt im Buch aber nicht vor.

Die Präzision und Empathie, mit der Sie Jakovs langsames Abgleiten in die Demenz schildern, sind bemerkenswert. Wie gestaltete sich die Recherche zu diesem Thema?

Das Thema beschäftigt mich schon lange. Vor mehr als zehn Jahren hatte ich für eine kurze Geschichte Kontakt zu einem Pflegeheim für Demente und begleitete zwei Ehepaare, wobei ich konkrete Einblicke erhielt. Von da an recherchierte ich weiter, sammelte Unterlagen an, wodurch ich das Thema in den Folgejahren immer ein bisschen vor Augen hatte. Als ich mit dem Schreiben begann, wollte ich aber dezidiert keinen Demenzroman schreiben. Die gibt es zu Hauf, auch sehr gute aus dem direkten Leben heraus, beispielweise von Arno Geiger oder David Wagner. Mir schwebte hingegen eine Geschichte vor, in der ein Verlust – hier der Sprache – auserzählt wird, der eine Gemeinschaft, konkret: eine Liebesbeziehung bedroht. Sprache stiftet Gemeinschaft, ein Haus, in dem zu wohnen ist. Zufällig habe ich in den Materialien Aspekte entdeckt, die eine besondere Seite im Umgang mit Erinnern und Vergessen zeigen und erzählerische Möglichkeiten bieten.

Zum Autor

Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Bereits mit seinen Romanen «Paarbildung» (2010) und «Halt auf Verlangen» (2017) gelangte er auf die Shortlist für den Schweizer Buchpreis.
Foto: © Jürgen Bauer

Welche Aspekte sind das?

Wenn jemand vergesslich wird, also die Merkfähigkeit in der Gegenwart abnimmt, kommen weit entfernte, vergessene, verdrängte und auch traumatische Ereignisse wieder an die Oberfläche. Es ist wie bei einem verschlossenen Bündel im Wasser, das sich langsam öffnet. Dabei kommt immer mehr zum Vorschein, ohne dass es dem Betreffenden bewusst wäre: ein Bruchstück hier, ein Bruchstück dort, ein Name, eine Geste. Die Vergangenheit wird mehr und mehr präsent, das Unterschwellige und Verschüttete drängt an die Oberfläche, während die Merkfähigkeit und damit die Präsenz in der Gegenwart wegbricht. Dieser Aspekt ist so noch nie beschrieben worden. Für die Geschichte eines Paares bedeutet dies, dass eine gelebte Vergangenheit, eine frühe Liebe, aber auch eine traumatische Situation das Jetzt einnimmt. Anders gesagt: Der Rivale, die Rivalin kommt nicht aus der Gegenwart, sondern aus einer fernen Vergangenheit und breitet sich derart aus, dass das vergangene Liebesleben plötzlich zur Realität der Gegenwart wird.

Untertags fängt dies in einem einzigen Wort ein. Wie sind Sie auf diesen Titel gekommen?

Ich mag diese Einworttitel, die Wellen werfen wie ein Stein, den man ins Wasser wirft. Untertags, rutscht es Herta einmal heraus, habe die frühe Liebe Jakovs überdauert. Da kommt etwas aus dem Untergrund, das Verborgenes, unerzählte Geschichten birgt, die alle von uns mit sich tragen: Geheimnisse. Das Untergründige finden wir aber auch im literarischen Sprechen, das unter dem Text weitere Schichten mitschwingen lässt. Wenn man eine Geschichte erzählt, dann schwingen andere Themen mit, hier ganz zentral: Wie finde ich eine Sprache oder wie verliere ich eine Sprache. Da ist die Geschichte auch literarisch interessant. Einer verliert die Sprache, aber zwei, Herta und ihre Tochter Eliane, finden durch die Geschehnisse zum Sprechen. Das Erzählen als eine Art Notwehr also, als Antwort auf einen Verlust.

«Untertags» heisst auch «tagsüber». Wir haben es also mit einem doppeldeutigen Begriff zu tun, der geradezu Widersprüchliches vereint: Zum einen meint er «tagsüber»/«alltäglich», aber eben auch «versteckt»/«unter dem Boden».

Richtig. Das ist in einem doppelten Sinn so: Einerseits tun sich unter dem alltäglichen Sein immer wieder Abgründe auf. Anderseits wird beim schmerzlichen Prozess des Gedächtnisverlusts versucht, die Fassade zu wahren. Es ergibt sich ein Schwanken zwischen alltäglicher Norm und Absinken in eine Form von Sprachlosigkeit.

Sie haben einmal gesagt, Untertags sei ein Buch, das wohl von Verlusten berichte, aber auch vom Erzählen, das Verluste in Geschichten aufhebe. Wie meinen Sie das?

Schon von klein auf beobachte ich immer wieder, wie Menschen durch Erzählen zu sich selber finden. Sie sind erzählende Wesen. Ihre Identität als Erzählende erlaubt ihnen dann auch, mit Verlusten umzugehen, diese in einem grösseren Zusammenhang aufzuheben, in die Fragen um das Menschsein.

Wie haben Sie zur Erzählung von Untertags gefunden?

Ein literarischer Text entsteht in einer langsamen Genese von Aufnehmen und Wahrnehmen, Recherchieren, verbindet sich mit Erfahrungen, Erinnerungen und wird mit Phantasie in einen Text, eine Geschichte verwoben, der all das enthält, selbst aber etwas ganz Eigenes ist. Das gelingt nur, wenn ich eine ganz eigene Sprache, einen Ton finde, der über den Aussagesatz hinausklingt. Jeder Stoff fordert das Finden dieser Sprache. Erst wenn ich die Sprache gefunden habe, kann ich erzählen.

In welcher Art hat Sie dabei der mit dem Demenzsujet verbundene Sprachverlust beeinflusst?

Ich erlebte bei einem Gedächtnistraining, an dem ich als Beobachter teilnehmen durfte, etwas Unglaubliches. Alle Beteiligten waren von stark fortgeschrittenem Sprachverlust beeinträchtigt. Sie erhielten Stichworte und plötzlich nahm einer ein Stichwort auf und begann zu erzählen. Dabei zeigte sich das Erzählen als literarisches Sprechen, insofern es einen besonderen Umgang mit den Zeiten verriet, ein Ineinanderschieben von Zeitebenen. Einer erzählte etwa Reiseerfahrungen; Assoziationen stellten sich ein, ein anderer kam mit einer anderen Reisegeschichte, wodurch sich Zeiten und Situationen vermischten. Dadurch gewannen die Sprechenden als Erzählende wieder eine temporäre Identität.

Wie fand diese Erfahrung Eingang in den Roman?

Zum einen in einer konkreten Passage im Buch: Der schon demente Jakov wird auf einen kürzlichen Reitunfall angesprochen und verwebt diesen dann mit einem langezurückliegenden Sturz beim Rodeo zu einer ganz anderen Geschichte. Zum andern hat mich die Erkenntnis, dass Erzählen im Grunde aus Zusammenführen verschiedener Zeitebenen besteht, über das ganze Buch begleitet. Die Frage, was Erzählen bedeutet, ist für mich das Untertagsthema dieses Buchs.

Aus der demenzbedingten Beeinträchtigung des Sprachvermögens entstehen auch sprachspielerische Wörter wie etwa «Mundbesen» für «Zahnbürste». Sind Sie solchen Wörtern begegnet oder haben Sie sie erfunden?

Es ist tatsächlich beides. Den Mundbesen habe ich nicht erfunden, sondern gefunden. Auch den Satz «ich vergesse nicht, dass ich vergesse» habe ich konkret gehört. Andere Wörter und Wendungen habe ich in der Logik des Sprachverlusts auch erfunden. Bei Menschen, die Sprache verlieren, zeigt sich vielfach eine besondere Sprachkreativität: Weil sie den Begriff nicht mehr greifen können und ihn zu umschreiben versuchen, erfinden sie neue Wörter. Das entspricht schon fast der Herder’schen Sprachtheorie. Faszinierend, was man da hört und sieht und woran man erzählerisch anknüpfen kann.

Herta findet in Jakovs Unterlagen Aufzeichnungen, die ein lückenhaftes Bild seiner grossen Jugendliebe entstehen lassen. Die Beziehung zum schon dementen Jakov schwankt zwischen Verstörung und Versöhnung.

Diese Ambivalenz ist sehr bewusst gesetzt. Wir hätten immer gerne klare Lösungen: schwarz oder weiss. Es gibt unendliche Grauschattierungen dazwischen. Wir sind ständig im Flottieren, denn unser Ich ist keine so feste Angelegenheit. Bei Herta handelt es sich nicht um Eifersucht, vielmehr ist Jakov ihre grosse Liebe, die ihr zu entgleiten droht. Die Liebesbeziehung, die gemeinsame Sprache, das gemeinsame Erleben droht ihr zu entschwinden. Die Fragen, wie man mit dem Abschiednehmen, mit der Veränderung eines Menschen umgeht, gehören zur condition humaine und sind wahnsinnig herausfordernd.

Gegen Ende des Buchs wechselt die Erzählperspektive von Herta zu ihrer Tochter Eliane. Wie ist das motiviert?

Zum einen aus medizinischen Gründen. Herta wird in der letzten Phase derart stark in Anspruch genommen, dass es nicht glaubwürdig wäre, wenn sie jetzt noch Aufzeichnungen machte. Ebenso drängt sich der Wechsel psychologisch auf. Herta ist immer poröser und trauriger, weshalb der ganze Roman in einen mutlosen Sog aus Melancholie geraten wäre. Töchter haben mehr Distanz, denn sie haben den Blick von aussen. Dieser tut dem Buch auch in der späten Phase gut.

Die Buchpräsentation von Untertags war Ende Oktober. Seither waren coronabedingt keinerlei Lesungen möglich. Wie gehen Sie damit um?

Die Lesungen fielen schon vorher aus, denn von März bis in den Sommer hinein hätte ich viele Lesungen gehabt. Wie die meisten Autor*innen verdiene ich mein Geld primär mit Lesungen. Diese Einnahmen sind nun einfach weggefallen. Es fehlen aber auch der Austausch und das Echo, wobei der Verbreitungseffekt durch Lesungen bei Büchern natürlich zentral ist. Wirklich keine erfreuliche Situation.

Und was heisst es für Ihren Schreiballtag?

Ich lebe mein Leben erst recht nur noch schreibend, ganz in meinen Stoffen. Die Arbeit mit der Sprache, das Entwickeln von Figuren und Geschichten können mich komplett einnehmen. Während der akuten Pandemie bewegte ich mich als Risikoperson nahezu nur in meiner Wohnung. Ich lebte mit den Figuren zusammen, trat mit ihnen in einen Dialog – und die maulten mitunter auch. Das mag skurril klingen, gab mir aber immer wieder Glücksmomente. Ich empfinde das als bereichernd und ein Privileg.

Das Gespräch führte Tobias Bauer. / Foto: © Jürgen Bauer

Urs Faes: Untertags. 239 Seiten. Berlin: Suhrkamp 2020, ca. 30 Franken.

Weitere Bücher