KW26

Brüchiges Erzählen

In Regina Dürigs Novelle «Federn lassen» werden physische und psychische Grenzüberschreitungen poetisch greifbar. Die Erzählung stellt dabei die dringende Frage, wie man über etwas sprechen kann, was im Alltag meistens unsichtbar bleibt.

Von Mirjam Rusterholz
28. Juni 2021

Federn lassen begleitet ein weibliches Du von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter. In kurzen Episoden werden durchgängig Momente beschrieben, in denen diese Figur mit ihren Bedürfnissen und Ängsten nicht ernst genommen wird. Teilweise erscheinen die Geschehnisse fast schon als Lappalien, zum Beispiel als der Protagonistin als Kind ein Spielkamerad aufgedrängt wird, obwohl sie eigentlich alleine spielen möchte. Oder als sie bereits älter ist und der Freund ihr nicht glaubt, dass das Ayran ungeniessbar ist, bis er es selbst probiert. Bemerkungen, die sie daraufhin zurechtweisen oder anzweifeln, hinterlassen jedoch feine Kratzspuren beim heranwachsenden Kind sowie später bei der erwachsenen Frau. In ihrer Menge entfalten sie die entsprechende Wirkung und vermitteln ihr, dass sie ihrer eigenen Einschätzung nicht trauen kann und nicht für ihre eigenen Grenzen einstehen darf.

Zur Autorin

Regina Dürig, geboren 1982 in Mannheim, aufgewachsen in Odenwalt. Studium der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation in Berlin und Literarisches Schreiben in Biel. Dürig ist freischaffende Autorin und Performerin und arbeitet an einem künstlerischen Dissertationsprojekt zum Nexus von Literarischem Schreiben und Wissenschaft. Zudem ist sie als Dozentin und Mentorin an der Hochschule der Künste Bern und am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel tätig. Dürigs literarisches Werk umfasst Kurprosa, Hörspiele, Kinderbücher und Jugendliteratur. Für ihre Arbeiten hat sie zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u. a. den Peter-Härtling-Preis, den Literaturpreis Wartholz und den Literaturpreis des Kantons Bern. Dürig lebt heute in Biel.
Foto: © Anja Fonseka

Die Folge dieser inneren Verunsicherung manifestiert sich in jenen drei Episoden, die von der Autorin mit einer Triggerwarnung gekennzeichnet worden sind. Je älter das Mädchen wird, desto sexualisierter werden die Grenzüberschreitungen – von anzüglichen Bemerkungen oder Sexismus am Arbeitsplatz bis hin zur körperlichen Gewalterfahrung, einer Vergewaltigung. «Have you been raped», fragt eine Freundin in die Runde und zeigt auf jede Frau im Raum. Doch selbst hier, unter Freund*innen, gibt es Menschen, die ihre Erfahrungen anzweifeln. Und so verneint die Protagonistin und meint, sie hätte bis anhin Glück gehabt.

Dürigs Roman verhandelt in ihrer Poetik genau diese Stille und Sprachlosigkeit, die mit einem solchen Übergriff einhergehen und die Scham, die das Mitteilen verhindert. Jede Episode ist in Versen abgefasst, die Zeilen entsprechen jedoch nicht dem natürlichen Sprachrhythmus. Sie brechen mitten im Satz ab und werden auf der nächsten Zeile weitergeführt. Ordnende Satzzeichen fehlen ganz.

„Am nächsten Tag

ruft Kessy

an du weißt du

kannst nichts

über die Sache

sagen aber irgendwas

anderes sagen oder

gar nichts sagen“

Es ist eine gehetzte Sprache, die mit jedem Vers Kontinuität negiert und damit die Erfahrung des Traumas performativ widerspiegelt, indem sie die Brüche in der Sprache manifestiert, welche diese Erlebnisse im Denken und Handeln der Betroffenen hinterlassen. Federn lassen ist ein sprachliches Juwel, auch wenn der Inhalt schwer zu verdauen ist. Gerade durch seine poetische Form gelingt es der Erzählung, eine eindringliche und beklemmende Atmosphäre zu erzeugen. Damit wird uns die folgenschwere Schädigung eines Du vor Augen geführt, das selbst in ungefährlichen Situationen nichts Gutes mehr von seinen Mitmenschen erwarten und dadurch nicht mehr offen auf andere zugehen kann – zum Nachteil für den Zusammenhalt der ganzen Gesellschaft. Vier Jahre nach der MeToo-Bewegung zeigt Dürigs Erzählung, dass im Umgang mit sexualisierten Übergriffen noch viel getan werden muss. Federn lassen appelliert an eine Gesellschaft, die Grenzen ihrer Mitmenschen zu respektieren und Überlebenden sexualisierter Gewalt Gehör zu schenken. Ohne Kompromisse.

Regina Dürig: Federn lassen. 104 Seiten. Graz: Literaturverlag Droschl 2021, ca. 29 Franken.

Weitere Bücher