KW24

Feministisch streiken mit Literatur und Picknick

Anlässlich des diesjährigen feministischen Streiks kamen Studierende und Angehörige des Deutschen Seminars für ein «Literarisches Picknick» zusammen, um sich über Texte von Verena Stefan, Adelheid Duvanel und Mariella Mehr auszutauschen. Ein Bericht aus den drei Lektüregruppen.

Von Redaktion
14. Juni 2021

«Das war ein aufschub, der beginn einer grundlage»

1975 erschienen wird Verena Stefans Häutungen heute als «Bibel der Frauenbewegung» gefeiert und firmiert als erster deutschsprachiger literarischer Text der Neuen Frauenbewegung. Bei dieser historischen Prägung setzten wir denn auch ein, um den Text nicht nur auf dessen Aktualität zu befragen, sondern insbesondere die spezifische Poetik Stefans zu umreissen, die sich in einer ständigen Verschiebungsleistung zwischen Körperlichkeit, Sexualität, Sprache und Schrift eröffnet – im Aufschub und in einem Dazwischen, das immer wieder neu ausgemessen werden muss.

Wir begannen die Lektüre mit einem close reading der Einstiegssequenz, die zentrale Motive und Strategien des Romans erahnen lässt: «unversehens» gerät die Protagonistin in den Grünfall der Birken, der den Auftakt zu einer phänologischen Zeitrechnung bildet, die sich explizit von der kalendarischen abgrenzt. Ebenso unversehens wird der naturidyllische Gang durch das Birkengrün durchbrochen, als die Protagonistin auf offener Strasse von mehreren Männern belästigt und beschimpft wird. Zuhause angekommen wünscht sie sich, «[e]inmal zurück schlagen können, nicht ständig empörung um empörung aufschichten! Was soll ich jetzt an der schreibmaschine?» Anlass zum Schreiben bietet keineswegs der poetisch und sinnlich aufgeladene Birkenfall, sondern die Erniedrigung, die in eine Schreibszene überführt wird, in der die Sprache in ihre Bruchstücke zersplittert ist: Für die Protagonistin Stefans heisst Schreiben deshalb, auf dem Boden sitzend zu buchstabieren, Buchstaben aneinanderzureihen und in einem ständigen Sortieren deren Bezüge und Lebendigkeit neu auszuloten.

Die Verknüpfung episodenhafter Erzählfragmente in sehr konkretem Stil erweist sich als programmatisches Textverfahren, das durch sinnhafte Versetzungen nicht nur Anordnung und Symbolik, sondern auch die eigene Sprachlichkeit hinterfragen muss. Die Renaturalisierung der Körper – die «defloration» und der wuchernde Penis, die Vagina als «korallenriff» wie auch Wortneuschöpfungen wie «schamlippler» – ist denn immer auch an eine Reverbalisierung gebunden, die nicht nur medizinische und metaphorische Fachbegriffe neu kontextualisiert, sondern zugleich an die Vitalität der Buchstaben («kleine, dunkle zeichen, fremde lebewesen, die durcheinander krabbeln») und an die Möglichkeit der Selbstermächtigung zurückbindet. Syntaktisch formiert sich diese Lebendigkeit wie Herauslösung der Zeichen in der konstanten Kleinschreibung wie auch in der Auftrennung von Komposita.

Indem die «defloration» der Protagonistin als «stammesritus», d.h. als archaische Ordnung vorgestellt wird, nach dem die «urwaldtrommeln» schliesslich verstummen, weist die Szenerie nicht nur auf die Brutalität, den Druck, die Isolation und den Schmerz hin, welche diese Erfahrung bestimmen, sondern ebenso auf ein ständiges «ausquartieren» aus dem weiblichen Körper. Diese Negativität des weiblichen Körpers, dessen Nicht-Genügen – «Er entsprach nicht den vorschriften» – und das Nicht-Wissen über den weiblichen Körper – «Die selbstuntersuchung kannten wir noch nicht» – führt der Text genealogisch auf ein heteronormatives Regelsystem der Sexualität zurück, das für die Protagonistin in Häutungen allgegenwärtig ist und erst in der Beziehung mit Fenna und in einem ständigen Häutungsprozess nicht mehr nur «in vorgeformtes hineingezogen» wird.

Eben diese Verschränkung von weiblicher Sexualität und Textproduktion, die gleichzeitige Abstossung abgegriffener Sprache und Schöpfung neuer Begrifflichkeiten, sowie die enttabuisierte und umfassende Darstellung von Menstruation und weiblicher Erotik ermöglichen eine Auseinandersetzung mit patriarchalen Normen, die in der Diskussion des Texts als eine immer noch sehr aktuelle verortet worden ist. Die «Bibel der Frauenbewegung» war jedoch keine*r der anwesenden Student*innen im Literaturstudium zuvor begegnet.

Irmgard Thiel, Shantala Hummler, Vera Thomann

 

 

Eine literarische Montage aus Fiktion und historischen Dokumenten

Unsere Lektüregruppe hat sich über einen Ausschnitt aus Mariella Mehrs Theaterstück Akte M. Xenos ill. * 1947 – Akte C. Xenos ill. * 1966 unterhalten, welches – gerahmt von einem historischen Abriss und Briefwechsel der Autorin – unter dem Titel Kinder der Landstrasse. Ein Hilfswerk, ein Theater und die Folgen 1987 veröffentlicht wurde. Das Drama beschäftigt sich mit dem gleichnamigen Pro-Juventute-Projekt, das zur «Bekämpfung der Vagantität» gegründet und über den Zeitraum von 1926 bis 1973 geführt wurde. Unter dem zynischen Begriff «Hilfswerk» wurden – ganz im Sinne der damals verbreiteten Eugenik-Theorien – systematisch Zwangssterilisationen, Kindswegnahmen und Landesverweisungen vorgenommen, die eine weitreichende Zerstörung von jenischen Familienverbänden zur Folge hatte.
Als Kind selbst solchen Zwangsmassnahmen zum Opfer gefallen, kämpft Mariella Mehr bis heute für die Aufarbeitung der Geschichte des – wie sie es nennt – «sozialen und kulturellen Genozids» an den Jenischen in der Schweiz. So trägt Kinder der Landstrasse stark autobiographische Züge, wie es für Mehrs Poetik bezeichnend ist, die sich dezidiert als Littérature engagée versteht. Indem fiktionale und faktuale Elementen in ihren Texten verschränkt werden, eröffnen sie einen poetologischen Reflexionsraum darüber, wo das Literarische beginnt, welche besondere Ausdrucksform die Literatur schafft und welche Wirkung sie erzeugt.

Im Gespräch der Lektüregruppe wurde gleich zu Beginn die auffällige Form des Stücks besprochen, dessen Dialoge zwischen der Hauptfigur M. Xenos (ein «Mündel») und anderen Figuren durch ihre lyrische Gestalt auffallen. Durchbrochen wird diese fiktionale Textebene wiederum durch reale Dokumente aus der Akte der Pro Juventute über Mariella Mehr selbst, die ein Produkt der männlich geprägten Institutionen von Wissenschaft, Religion und Staat sind. Den historischen Dokumenten wird mit der Erzählung rund um die Figur M. Xenos, die verzweifelt um ihr Kind und die eigene Freiheit kämpft, ein persönliches und subjektives Narrativ gegenüberstellt.

Ausserdem fiel die religiös konnotierte Darstellung von Mutterschaft und der Rolle des weiblichen und mütterlichen Körpers ins Auge, die im Stück kritisch ausgeleuchtet wird. Die literarische Auseinandersetzung mit patriarchalen Strukturen fanden wir in den von Neid und Ablehnung geprägten Beziehungen zwischen den weiblichen Protagonistinnen, die aufzeigen, wie weibliche Solidarität systematisch verunmöglicht wird. Intersektional perspektiviert konnte sehr gut herausgearbeitet werden, wie sich verschiedene Diskriminierungskategorien (hier u. a. gender, class, race, sexuelle Orientierung, Bildungsgrad, Mutterschaft/Kinderlosigkeit) nicht nur in der Figur der Xenos verschränken, sondern mit Blick auf das weitere Figurenpersonal als allgemein prägende Faktoren herausstellen.

Am Ende der Diskussion schlugen wir den Bogen in die Jetztzeit und zum Aktualitätsbezug des feministischen Streiks 2021. Wir sprachen darüber, wie in der Schweiz die Aufarbeitung der Vergehen an den Jenischen viel zu wenig vorangetrieben wurde und wird sowie darüber, welche Rolle Literatur spielen kann, wenn es darum geht, diesen Aspekt der Schweizer Geschichte im kulturellen Gedächtnis zu verankern. Zudem wurde deutlich, dass die Unterdrückungsstrukturen und Verdrängungsstrategien, die in Kinder der Landstrasse thematisiert werden, sich in der aktuellen Asyl-, Migrations- und Sozialpolitik der Schweiz wiedererkennen lassen. Somit zeigte sich uns deutlich, wie wichtig es ist, die feministische Debatte intersektional und breit zu führen. Eine breit gefächerte Auswahl an Literatur jenseits des männlich dominierten Kanons kann uns dabei helfen, den Blick auf unterschiedliche gesellschaftspolitische Belange zu schärfen – und Ausgrenzung und Diskriminierung entgegenzuwirken.

Sina Chiavi, Kimon Mouzakis, Vera Zimmermann

 

 

Verschneiden und Zerlegen

Die Lektüren von Adelheid Duvanel waren fünf ihrer Texte gewidmet: Gemeinsam befragten wir Operatiönchen (1997), Angela (1985), Kündigung (1988), Die Ordnung (1985) und Der Dichter (1980) auf ihre Erzählweise sowie insbesondere auf das in ihnen angelegte Verhältnis von Figuren, Räumen und Dingen. Gleich eingangs wurde in der Diskussion deutlich, dass Duvanels Texte sich gegen einfache Sinnstiftungen sperren und sich im besten Sinne als fragwürdig erweisen. Es sind die sich stetig verschiebenden, pluralen Semantiken, die eine genaue Analyse erfordern: eine Zerlegung, wie sie mitunter auch die Protagonist:innen selbst mit den Gegenständen ihrer Wahrnehmung vollziehen.

Wir trafen auf Figuren, die in verschiedenen, miteinander verketteten Realitäten existieren – neben ihrer ‚eigentlichen‘ Welt im Traum, in der Vorstellung, im Wunsch – und die alleine dadurch Intensitäten zu produzieren vermögen. Sie erschienen uns wiederholt als unbehauste: namenlos, ohne Ich oder ohne Ort. Wo es Innenräume gibt, dienen sie vor allem der Isolation; wo familiäre und soziale Ordnungen thematisch werden, bilden diese ein Zwangskorsett zur Herstellung und Verfestigung von Normen. All dem steht eine häufig bloss angedeutete (Aussen-)Welt gegenüber, an der den Figuren meist keine Teilhabe gewährt wird, die sie mit der Unmöglichkeit von Kommunikation konfrontiert und die ihnen mit Unverständnis begegnet.

Als weiteres dringliches Thema für Duvanels Protagonist:innen gestaltete sich die Frage nach deren Menschlichkeit. Letztere wird in den Texten kontrastiert mit Figurationen des Sprachlosen respektive -offenen: mit dem Kindlichen, dem Tierischen, dem Dinglichen. Die Figuren der kurzen Erzählungen sehen sich Spiegelungen ihrer selbst gegenüber, und sie entdecken nur allzu oft das Fremde im Eigenen, das sie zu sich selbst auf Distanz gehen lässt. Ihr Status als Personen steht auf dem Spiel, wird durch Schutz- und Wehrlosigkeit in Daseinsformen der Hülle unterlaufen. In den genannten Szenarien fiel überdies auf, dass Sprache mit Körperlichkeit interferiert – sie manifestiert sich in Körpern, manipuliert sie, löst sie, zumal in ihrer gewohnten Gestalt, auf.

Duvanels Texte, so stellten wir fest, nehmen die Nahwelt und das Alltägliche in den Blick, sie zeichnen sich durch minutiöse Beobachtungen auch des vermeintlich Unscheinbaren und die Dichte ihrer Bilder aus. So verschneiden Duvanels Darstellungsmodi Sachlichkeit mit bizarren Erscheinungen und reizen die Metaphorizität der Begriffe bis in die Extreme aus. Ebenso durchziehen Momente der Gewalt die Texte; ihr Spektrum reicht von latenter Bedrohung bis zu surrealistisch durchformter Brachialität. Auch dort, wo die Erzählungen sich poetologischen Lesarten öffnen, stiessen wir auf ein Widerspiel von Zerstörung und Kreation, das mit der De- und Resemantisierung von Worten und Dingen arbeitet. Zwar funktioniert Schreiben als eine Form der Welterschaffung – jedoch einer Welt, die prekär bleibt und die Figuren selbst da, wo Möglichkeiten der Artikulation für sie aufblitzen, einsam zurücklässt.

Sebastian Meixner, Thomas Traupmann, Zoe Zobrist

Fotos: © Benno Wirz

Verena Stefan: Häutungen. 328 Seiten. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 2015, ca. 16 Franken.

 

Mariella Mehr: Kinder der Landstrasse. Ein Hilfswerk, ein Theater und die Folgen. 160 Seiten. Bern: Zytglogge 1987.

 

Adelheid Duvanel: Fern von hier. 792 Seiten. Zürich: Limmat Verlag 2021, ca. 44 Franken.