KW22

Nüchterne Ode an die Hoffnung

Annette Lory

«Wir waren zehn, jetzt sind wir nur noch eine.» So beginnt Daniel de Roulets neuer Roman Zehn unbekümmerte Anarchistinnen. Die Eröffnung ist Programm. Die Struktur der Geschichte lehnt sich an das Lied der «Zehn kleinen Negerlein» an. Was für heutige Ohren befremdlich und rassistisch klingen mag, passt zum kolonialistischen 19. Jahrhundert, in dem das Buch spielt. Um eine einfache Vergegenwärtigung früherer Zeiten ist es dem hoch reflektierten Erinnerungsspezialisten aus Genf aber auch in seinem neuesten Werk nicht zu tun.

Von Selina Widmer
28. Mai 2018

«Wir waren zehn, jetzt sind wir nur noch eine.» So beginnt Daniel de Roulets neuer Roman Zehn unbekümmerte Anarchistinnen. Die Eröffnung ist Programm. Die Struktur der Geschichte lehnt sich an das Lied der «Zehn kleinen Negerlein» an. Was für heutige Ohren befremdlich und rassistisch klingen mag, passt zum kolonialistischen 19. Jahrhundert, in dem das Buch spielt. Um eine einfache Vergegenwärtigung früherer Zeiten ist es dem hoch reflektierten Erinnerungsspezialisten aus Genf aber auch in seinem neuesten Werk nicht zu tun.

Einwandern, auswandern

Während momentan das Thema Einwanderung in aller Munde ist, erzählt das Buch eine Auswanderungsgeschichte: Zehn Uhrmacherinnen aus Saint-Imier im Berner Jura lassen sich von den anarchistischen Ideen Bakunins und Malatestas, die 1872 dort tagen, anstecken. Sie beschliessen, die Enge des Schweizer Dorfes hinter sich zu lassen und nach der Devise «Weder Gott noch Chef noch Ehemann» eine neue Art des Zusammenlebens zu erproben. Dabei wollen die Frauen untereinander solidarisch sein, jede steht aber gleichzeitig zu ihrer persönlichen Freiheit und Meinung. Eine hat für das Vorhaben allerdings etwas weniger Euphorie übrig als die anderen: «Valentine konnte sich gut vorstellen, nach Genf auszuwandern, aber nicht weiter weg. Die anderen wollten ans Ende der Welt.» Letzteres tun sie dann – Valentine inbegriffen.

Zum Autor

Daniel de Roulet, geboren 1944, war Architekt und arbeitete als Informatiker in Genf. Seit 1997 ist er Schriftsteller; für seine zahlreichen Romane wurde er in Frankreich mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet. Für sein Lebenswerk erhielt er 2019 den Grand Prix de Littérature der Kantone Bern und Jura (CiLi). Daniel de Roulet lebt in Genf.
Foto: © Erling Mandelmann

(K)eine Erfolgsgeschichte

Die Frauen reisen nach Patagonien, später zur Pazifikinsel Juan-Fernandez und zum Schluss nach Buenos Aires. Sie versuchen sich im gemeinsamen anarchistischen Leben, gründen eine Bäckerei sowie ein Uhrengeschäft und trotzen den Beamten. Analog zum Lied der «Zehn kleinen Negerlein» stirbt immer wieder eine der Frauen oder bleibt irgendwo auf der Reise zurück. Dabei werden die Kapitel je einer Frau gewidmet. Bis nur noch Valentine – die Erzählerin – übrig bleibt, die vom Leben der Jurasserinnen in Südamerika zeugen kann. Es ist keine Erfolgsgeschichte, die Valentine erzählt. Doch wie auch im Buch steht: «Man braucht keinen Erfolg, um die Hoffnung zu wahren.» Darum geht es schlussendlich in der Geschichte: Die Hoffnung nicht verlieren, an die eigenen Ideale glauben und für sie einstehen, auch wenn die Umstände gerade nicht rosig sind.

Ob die Umstände auch im Verlagswesen nicht rosig sind und deshalb die Übersetzung des Romans vor dem Original veröffentlicht worden ist, ist uns nicht bekannt geworden. Seltsam ist es auf alle Fälle, denn die französischsprachige Leserschaft de Roulets, die sein Werk eigentlich zuerst in den Händen halten müsste, wird dies erst im Oktober tun können. Dann nämlich wird der Roman unter seinem Originaltitel Quelques femmes insouciantes im Verlag Buchet Chastel erscheinen.

Übersetzung hin oder her, eines ist klar: Der Roman lebt nicht von seiner sprachlichen Virtuosität. Er ist nüchtern-herb und bescheiden gehalten. Gelegentlich etwas zu trocken. Genau darin liegt aber auch seine Stärke, denn der Stil kommt Valentines Anspruch nach, in der Berichterstattung «möglichst wahrheitsgetreu zu erzählen, was es kostet, die Welt neu zu erfinden».

Geschichte erzählen

Warum dann aber ein Roman? Wieso Geschichte in eine Geschichte verpacken? Beim näheren Betrachten zeigt sich der Sinn schon bald: Es findet hier nicht bloss eine allgemeingültige, genaue Geschichtsaufarbeitung statt. Vielmehr kann das Historische als Inspirationsquelle und Motivation für den Roman und die darin zugleich fein, einfach und liebevoll gezeichneten Figuren gesehen werden. Schlussendlich geht es um weitaus mehr als um geschichtliche Tatsachen – der Roman wächst von alleine über das Bericht-Dasein hinaus. De Roulet erinnert darin an seinen etwas jüngeren Landsmann Alex Capus, dessen Spezialität es ebenfalls ist, Geschichten aus der Vergangenheit auszugraben und ihnen neues Leben einzuhauchen. De Roulet tut dies auf seine eigene, ruhige und politisch inspirierte Art. Und es funktioniert. Auch wenn man als Leserin teils einen langen Atem braucht, da man zeitweise vollgepackte Kapitel und lange Beschreibungen über sich ergehen lassen muss.

Aber es lohnt sich. Vor allem, weil die Romanform angenehm entstaubend wirkt: Was uns in einem Geschichtsbuch womöglich als unbedeutend erscheinen würde, gewinnt in de Roulets Roman an Farbe. Es ist, wie wenn man mit dem Finger über ein verstaubtes Foto fährt. Aus matter Ahnung wird farbiges Leben. Die Farbe wäre nicht da, würde de Roulet das genau Recherchierte nicht mit seiner Phantasie verbinden. In seinem Roman ergibt sich eine erstaunlich flüssige Einheit aus beiden Elementen. Und als Leserin taucht man in diese Welt ein, ohne noch genau wissen zu wollen, was davon Geschichte und was Phantasie ist.

Ein sehr lesenswerter Roman, der uns ein gerne vergessenes Kapitel Schweizer Geschichte vor Augen führt und so die Relationen von Ein- und Auswanderung eigenwillig nüchtern und mit Aktualitätsanspruch beleuchtet.

Einwandern, auswandern

Während momentan das Thema Einwanderung in aller Munde ist, erzählt das Buch eine Auswanderungsgeschichte: Zehn Uhrmacherinnen aus Saint-Imier im Berner Jura lassen sich von den anarchistischen Ideen Bakunins und Malatestas, die 1872 dort tagen, anstecken. Sie beschliessen, die Enge des Schweizer Dorfes hinter sich zu lassen und nach der Devise «Weder Gott noch Chef noch Ehemann» eine neue Art des Zusammenlebens zu erproben. Dabei wollen die Frauen untereinander solidarisch sein, jede steht aber gleichzeitig zu ihrer persönlichen Freiheit und Meinung. Eine hat für das Vorhaben allerdings etwas weniger Euphorie übrig als die anderen: «Valentine konnte sich gut vorstellen, nach Genf auszuwandern, aber nicht weiter weg. Die anderen wollten ans Ende der Welt.» Letzteres tun sie dann – Valentine inbegriffen.

(K)eine Erfolgsgeschichte

Die Frauen reisen nach Patagonien, später zur Pazifikinsel Juan-Fernandez und zum Schluss nach Buenos Aires. Sie versuchen sich im gemeinsamen anarchistischen Leben, gründen eine Bäckerei sowie ein Uhrengeschäft und trotzen den Beamten. Analog zum Lied der «Zehn kleinen Negerlein» stirbt immer wieder eine der Frauen oder bleibt irgendwo auf der Reise zurück. Dabei werden die Kapitel je einer Frau gewidmet. Bis nur noch Valentine – die Erzählerin – übrig bleibt, die vom Leben der Jurasserinnen in Südamerika zeugen kann. Es ist keine Erfolgsgeschichte, die Valentine erzählt. Doch wie auch im Buch steht: «Man braucht keinen Erfolg, um die Hoffnung zu wahren.» Darum geht es schlussendlich in der Geschichte: Die Hoffnung nicht verlieren, an die eigenen Ideale glauben und für sie einstehen, auch wenn die Umstände gerade nicht rosig sind.

Ob die Umstände auch im Verlagswesen nicht rosig sind und deshalb die Übersetzung des Romans vor dem Original veröffentlicht worden ist, ist uns nicht bekannt geworden. Seltsam ist es auf alle Fälle, denn die französischsprachige Leserschaft de Roulets, die sein Werk eigentlich zuerst in den Händen halten müsste, wird dies erst im Oktober tun können. Dann nämlich wird der Roman unter seinem Originaltitel Quelques femmes insouciantes im Verlag Buchet Chastel erscheinen.

Übersetzung hin oder her, eines ist klar: Der Roman lebt nicht von seiner sprachlichen Virtuosität. Er ist nüchtern-herb und bescheiden gehalten. Gelegentlich etwas zu trocken. Genau darin liegt aber auch seine Stärke, denn der Stil kommt Valentines Anspruch nach, in der Berichterstattung «möglichst wahrheitsgetreu zu erzählen, was es kostet, die Welt neu zu erfinden».

Geschichte erzählen

Warum dann aber ein Roman? Wieso Geschichte in eine Geschichte verpacken? Beim näheren Betrachten zeigt sich der Sinn schon bald: Es findet hier nicht bloss eine allgemeingültige, genaue Geschichtsaufarbeitung statt. Vielmehr kann das Historische als Inspirationsquelle und Motivation für den Roman und die darin zugleich fein, einfach und liebevoll gezeichneten Figuren gesehen werden. Schlussendlich geht es um weitaus mehr als um geschichtliche Tatsachen – der Roman wächst von alleine über das Bericht-Dasein hinaus. De Roulet erinnert darin an seinen etwas jüngeren Landsmann Alex Capus, dessen Spezialität es ebenfalls ist, Geschichten aus der Vergangenheit auszugraben und ihnen neues Leben einzuhauchen. De Roulet tut dies auf seine eigene, ruhige und politisch inspirierte Art. Und es funktioniert. Auch wenn man als Leserin teils einen langen Atem braucht, da man zeitweise vollgepackte Kapitel und lange Beschreibungen über sich ergehen lassen muss.

Aber es lohnt sich. Vor allem, weil die Romanform angenehm entstaubend wirkt: Was uns in einem Geschichtsbuch womöglich als unbedeutend erscheinen würde, gewinnt in de Roulets Roman an Farbe. Es ist, wie wenn man mit dem Finger über ein verstaubtes Foto fährt. Aus matter Ahnung wird farbiges Leben. Die Farbe wäre nicht da, würde de Roulet das genau Recherchierte nicht mit seiner Phantasie verbinden. In seinem Roman ergibt sich eine erstaunlich flüssige Einheit aus beiden Elementen. Und als Leserin taucht man in diese Welt ein, ohne noch genau wissen zu wollen, was davon Geschichte und was Phantasie ist.

Ein sehr lesenswerter Roman, der uns ein gerne vergessenes Kapitel Schweizer Geschichte vor Augen führt und so die Relationen von Ein- und Auswanderung eigenwillig nüchtern und mit Aktualitätsanspruch beleuchtet.

Daniel de Roulet: Zehn unbekümmerte Anarchistinnen. Roman. Übersetzt von Maria Hoffmann-Dartevelle, Zürich: Limmat Verlag 2017, ca. 28 Franken.

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