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Kuriositätenkabinett der Befindlichkeiten

Markus Kirchhofer

Begab man sich in den bisherigen Romanen Maurizio Pinarellos noch auf autofiktionale Spurensuche und folgte dem Coming-of-Age der Secondo-Generation, wagt sein neustes Werk den Tauchgang in skurril verzerrte Figurenwelten. Wer einen langen Atem mitbringt, vor dessen Augen entfaltet sich ein bestechend buntes Prisma.

Von Marco Neuhaus
2. Februar 2019

Eine Grenzstadt wird von Wildschweinen heimgesucht: Über den Fluss schwimmend drängen die Tiere hinein, stören Nachtruhen und verheeren sorgsam gepflegte Gärten. Vor diesem skurrilen Szenario erzählt Maurizio Pinarellos Roman Wildschäden gleich mehrere ineinander verzahnte Geschichten, die von der paradoxen Gleichzeitigkeit von Freiheitssehnsucht und Sicherheitsbedürfnis handeln.

Zu diesem Zweck bietet er eine ansehnliche Menge exzentrischer Charaktere auf: Kurt, der verwitwete Polizist im Ruhestand, läuft nachts bei Schlaflosigkeit auf den Händen durchs Zimmer. Gianfranco ‘Fränk’ Salvatorelli, der konservative Zeitungsmann, spielt mit seiner Frau die Bettszene aus GodardsVerachtung nach. Helena, die Fitnesstrainerin und Triathletin, hat gelegentlich Visionen von derben Waldgöttern. Dass man da die Übersicht nicht verliert, dafür sorgt nebst einem dem Roman vorangestellten Figureninventar ein klarer, nüchterner Erzählstil und eine Sprache von fast sportlich anmutender Konzentration.

Zum Autor

Maurizio Pinarello, geb. 1963 in Basel, studierte Germanistik, Italianistik und Geschichte und promovierte anschliessend über italodeutsche Literatur. Er schrieb als freier Literaturjournalist u.a. für den Bund, arbeitet heute als Sekundarlehrer und spielt in der Schweizer Schriftsteller Nationalmannschaft. 2008 debütierte Pinarello mit dem Roman «Das Gedächtnis der Steine» und wurde in Folge mehrfach mit dem Förderbeitrag beider Basel ausgezeichnet, so auch für seinen dritten und neusten Roman «Wildschäden».

Nirgends ist dieser Autor unnötig selbstgefällig. Gleichwohl fordert dieses Buch ein wenig Geduld, stehen die Figuren zu Beginn doch relativ bezugslos in ihren jeweiligen Ecken und offenbaren sich erst mit der Zeit als Teile eines Mikrokosmos. Wie etwa in Filmen von Robert Altman kreuzen sich narrative Fäden an entscheidenden Stellen, um  wieder auseinanderzulaufen. Nimmt man sich die Zeit, um Pinarello beim Ausrichten seiner Figuren zu begleiten, schärfen sich deren Konturen zunehmend vor den Augen der Leser*innen. Die detailreiche Figurenzeichnung gehört freilich zu den bemerkenswerten Vorzügen dieses Erzählers: Vorsichtig überzeichnet und kauzig, bewahrt sie die präzise Schilderung davor, ins Karikatureske abzugleiten.

Was als leicht tragikomische Anordnung von Charakterstudien, gleichsam als Kuriositätenkabinett, daherkommt, entpuppt sich mehr und mehr als Studie zeitgenössischer Befindlichkeiten. Hierbei verweisen die titelgebenden Wildschäden metaphorisch auf die Verletzungen, die Grenzüberschreitungen im weitesten Sinn herbeiführen. Entsprechend lässt Pinarello seine Figuren die ganze Bandbreite von Verteidigung bis Überschreitung persönlicher, politischer, geographischer und anderer Grenzen durchspielen: Die heimische Flora wird gegen Schädlinge verteidigt, zudringliche Küsse werden abgewehrt und Wildschweine erlegt. Selbst die eigenen Gedanken und Phantasien können sich hier als Eindringlinge erweisen. Weil er die Wahrnehmung seiner Figuren nur selten falsifizieren mag, lässt der Roman denn auch mal offen, wo die Grenze zwischen berechtigter Angst und paranoider Projektion verläuft. Immer häufiger kommt unter der Ängstlichkeit eine befremdliche Wut zum Vorschein, die wirkt, als habe sie lange auf ein Ventil gewartet.

Doch nur selten mündet diese latente Aggression tatsächlich in der Eskalation, die Eindeutigkeit herstellen würde. Pinarello versucht geschickterweise nicht, alle diese Formen der Ängstlichkeit unter einen gemeinsamen Nenner zu zwingen. In wechselnder Anordnung stellt er die verschiedenen Unsicherheiten seiner Figuren nebeneinander, und überlässt es den Leser*innen, Ähnlichkeiten und Unterschiede der zugrundeliegenden Mechanismen zu registrieren.

Wie in letzten Jahren etwa in Dorothée Elmigers Schlafgänger und Gianna Molinaris Hier ist noch alles möglich werden bei Pinarello verschiedenste Momente tatsächlicher oder imaginierter Grenzüberquerung verdichtet, bis ein komplexes Bild einer vertrackten, schwer überschaubaren gesellschaftlichen Lage entsteht. In diesem Sinne funktioniert Pinarellos Roman auch ausgezeichnet als soziale Kartographie und gewinnt dadurch eine zeitdiagnostische Dimension und politische Relevanz. Pinarello ist ein sehr besonnener Erzähler mit einem Blick, der diagnostizieren will, das Thesenhafte aber elegant vermeidet. Was einigen unentschlossen erscheinen wird, wird andere gerade durch seine Differenziertheit bestechen.

Maurizio Pinarello: Wildschäden. 256 Seiten. Zürich: edition 8 2018, 26 Franken.

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