KW06

Ohne Grund

Markus Kirchhofer

Markus Kirchhofers 2016 erschienenes Prosa-Debüt «Stachel» kommt als provinzielles Schweizer Volkslied in 17 Novellen daher. Deren Schauplätze, Ereignisse und Charaktere wechseln, Aufbau und Stil bleiben hingegen weitgehend gleich. Gleichgültigkeit und Gelassenheit liegen dabei sehr dicht beieinander.

Von Meret Böhni
9. Februar 2019

Kirchhofer, bislang bekannt durch seine Comics und Lyrikbände, passt sich stilistisch seiner neu erprobten Form an. Seine Sprache ist betont prosaisch mit verhaltener Neigung zum Bildhaften: «In der Badi hörte ich Kindergeschrei, Wasserplantschen und Fusstritte gegen Bälle. Das ist der übliche Badi-Sound. An jenem Donnerstag intensivierte der nahende Vollmond alle Klangfarben, machte sie bunter. Ich mag diesen Vollmond-Sound, im Gegensatz beispielsweise zum Drohendes-Gewitter-Sound.»

Im Mittelpunkt der meisten Novellen steht, ganz klassisch, ein lebensveränderndes Ereignis. Beispielsweise versinkt eine Baustelle in einer Gletscherzunge, ein Bub im Freizeitbad und ein ein Lastwagen im gefrorenen See. Trotz dramatischer Einschnitte verweilt die erzählende Instanz jeweils in nüchternem Tonfall. Dadurch erinnern viele Geschichten an Protokolle, die aber durch kleine persönliche Details oder Alltäglichkeiten wieder durchbrochen werden. Die Figuren fliessen durch das Fehlen präziser Charakterzüge ineinander und bilden eine fast austauschbare Masse in verschiedenen Szenarien. Trotz weniger Finessen in der Charakterausarbeitung können die Figuren starke Gefühle der Antipathie auslösen. So zum Beispiel vier Männer, die alkoholisiert ein Skirennen schauen und sich dabei über banale Themen in hochgestochener Sprache austauschen. Oder Vater und Sohn, die beide mit dem gleichen ungeschliffenen Humor beschenkt sind und denen beim Anblick eines Muffs nur einfällt: «Was ist das? Hast du Nachbars Katze gehäutet?»

Zum Autor

Markus Kirchhofer, geboren 1963, lebt in Oberkulm. Seit 2013 ist er freier Autor. Zuvor war er Kulturvermittler, Lehrer und Erwachsenenbildner. Er schreibt Gedichte, Bildgeschichten, Kolumnen und Theaterstücke. 2018 erschien sein jüngster Gedichtband «Aushub».
Foto: © Werner Erne

Ähnlich wie die Charaktere bleiben auch die Inhalte skizzenhaft. Die Novellen behandeln schwerwiegende Themen wie einen Amoklauf oder psychische Bipolarität, aber dies auf unverbindliche Art und Weise – ohne Wertung und ohne grossen Anspruch auf eine Ausarbeitung von Gefühlslagen oder der Konsequenzen drastischer Vorgänge. Vieles bleibt angedeutet, ohne dass die Lesenden zur eigenständigen Füllung dieser Leerstellen aufgerufen wären. Auffällig ist das völlige Fehlen von Reflexion. Ostentativ arbeiten die Erzählungen mit polaren Strukturen, klaren Entgegensetzungen und Schemata. Schuldige werden womöglich bestraft, aber nicht hinterfragt – es scheint, als würden die Charaktere im Buch wenig Schmerz empfinden; die Suche nach einem Sündenbock oder einer Begründung erfolgt höchstens nebensächlich. Der Mensch, sonst als suchende, strebende Spezies bekannt, interessiert sich bei Kirchhofer nicht für Zusammenhänge. Mystische Erklärungen oder auch solche, die sich zuletzt als falsch entpuppen, sind für das Personal der Novellen völlig ausreichend.

An diesem Punkt ist die Bedeutung des Stachels interessant. Der figuriert in Kirchhofers Band nicht nur als das spitze, gefährliche Ding, sondern auch als Instrument beim Rudern mit beinah gegenteiliger Funktion: Er wird als Stütze eingesetzt und erlaubt es, Grund zu fassen. Genau dieser Grund wird in Kirchhofers Novellen aber eben weder gesucht noch betreten.

So liegt es wohl beim lesenden Publikum, sich auf diesem Grund zu bewegen – zum Beispiel mit der Frage an sich selber: Wieviel dieser im Buch dargelegten Unsensibilität, des humorlosen Bünzlitums, der provinziellen Lächerlichkeiten steckt in einem selber? Ob dafür der grosse erzählerische Aufwand nötig gewesen wäre, bleibt ebenso fragwürdig die vom Band vermittelte Einsicht, dass der Mensch letztlich keine andere Möglichkeit hat als jeweils weiterzuleben, seien die Einschnitte in den Alltag auch noch so gross. Dinge passieren, man anerkennt sie als solche, man lebt weiter, jemand schnäuzt sich, Bücher bleiben liegen, manchmal jahrelang, bis sie eines Tages jemand aufhebt und im Regal versorgt.

Markus Kirchhofer: Der Stachel. Kleine Novellen. 128 Seiten. Olten: Knapp Verlag, 19.80 Franken.

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