Textstreich – gelungen.

Eben erst angereist vom Literaturfest Salzburg, stellen Grenadine Rübler, Laura Schiele und Marius Schmidt ihre Texte auch am diesjährigen Thuner Literaturfestival Literaare vor. Unter der Moderation von Benjamin Schlüer sprechen die drei Gewinner:innen des Lyrik-Wettbewerbs Textstreich 2020 über Räume, Körperlichkeit und verhandeln Form, Bild und Wort über mehrere Sinne.

Für Grenadine Rübler führte der Weg zum Erzählen über die Architektur; Architektur ist für sie ebenso eine Form des Erzählens, wie Worte Raum schaffend, einnehmend und bildend sein können. Schon während ihres Architekturstudiums interessierte sie sich mehr für die Theorie und Geschichte, die hinter den Bauwerken standen. Die heute Sprachkunst Studierende fand in der Sprache ihr Ausdrucksmedium und kreiert mit ihrer Lyrik heute sprachliche Konstrukte, die semantische Brücken legen zwischen Sinneseindrücken und Sinnesausdrücken. Dennoch wirkt das vorgetragene Werk Sprachreste kaum konstruiert, sondern als Zusammensatz natürlicher Wortgebilde. Zukünftig wird Grenadine nicht nur literarische Räume entwerfen, sondern auch einen Blick auf die Fassaden werfen; wir bleiben gespannt, ob die Auseinandersetzung mit Sprache als Oberfläche, mit Hüllen und Fassaden ihre Form im Essay oder Gedicht wiederfinden – denn wie die Schriftstellerin zu Ende ihres lyrischen Werks verlauten lässt, sind «Gebäude [sind] Höhlen, Gebäude sind Hüllen. Gebäude sind Hüllen.»

Mit seinen Kurztexten in Form von prosaischer Lyrik, selbst gezeichneten Portraits und abstrakten, graphischen Bildern überzeugte Marius Schmidt die Textstreich-Jury. Eingeleitet von Benjamin Schlüer mit «sprachlich kunstvoll, kapriziös, klug und Witz» präsentiert der in Berlin lebende Gewinner sein gebundenes Werk Zählen Sie bis Null den Literaturfestivalbesuchern in Thun. In präziser Sprache formuliert und mit graphischen Ergänzungen eröffnet Marius den Zugang zu seinen Momentgeschichten gleich auf mehreren Ebenen. Auf die Frage, wie das Werk entstanden sei, entgegnet der Schriftsteller und bildende Künstler, dass sich die Materialsammlung in einer Situation, die die Frage aufwarf, wie man kontinuierliches Bewusstsein konstruiert, erschloss. Wort und Bild entwickeln sich bei Marius parallel, finden sich zusammen. Zählen Sie bis Null wuchs mittlerweile um einige szenarische Kurztexte, die wir bald zu Gesicht bekommen dürfen. Augenblicklich arbeitet Marius an mehreren Graphic Novel Skripten und an der Weiterentwicklung der Erzähltechnik mit Wort und Bild.

Laura Schiele findet in der Lyrik ihre «natürliche Art und Weise sich auszudrücken». Die Gedichtsammlung MPEMBA, die in zwölf Kurzgedichten einen Motivkatalog zusammenstellt und diesen thematisch ineinander überfliessen lässt, erzählt von einer Faszination für diffuse Körperlichkeit, das Zwischenmenschliche sowie den Räumen zwischen den Menschen und vermag unscharfe Grenzen präzise zu Wort zu bringen. Die Maschinenbau studierende Lyrikerin setzt den Inhalt ihrer Gedichte im Kontrast zu Maschinen, denen ein klarer Ablauf vorgegeben sind. Verworrene Grenzen, Risse und prägnant körperliche Themen wie Krebserkrankungen – der Körper, der gegen sich selbst arbeitet – finden sich bei Laura in poetischer Ordnung. Lyrik ist für sie nicht nur Ausdrucksform, sondern ein Medium, um Unfassbares greifbar zu gestalten – in die Kompaktform Gedicht zu übersetzen. Die studierte Übersetzerin wird sich auch in Zukunft atmosphärisch aufgreifende lyrische Werke zu verfassen, die mitunter Körperlichkeit thematisieren, sowie sich von englischen und katalanischen Texten inspirieren lassen.

«Wäre sie keine Frau gewesen, wäre sie Staatspräsident geworden»

Zora del Buono eröffnete den strahlenden literaare Sonntag und liest Passagen aus ihrem Roman Die Marschallin, der das Leben ihrer Grossmutter und Namenspatin Zora Del Buono geschrieben hat. Zwischen den Leseblöcken sprach die Zürcher Autorin mit Gallus Frei Tomic über biographische Bezüge und Parallelen zu ihrer schillernden Romanfigur, ihr ambivalentes Verhältnis zu Italien und darüber, wie ihre Arbeit als Architektin ihr schriftstellerisches Schaffen beeinflusst. Zudem hatte Zora del Buono ihre beiden Hunde Mika und Natalina mitgebracht, welche das Publikum ebenfalls auf äusserst charmante Art zu unterhalten wussten.

Doch nun zum Roman: Die Marschallin wirft Scheinwerferlichter auf das Leben Zora Del Buonos im faschistischen Italien – auf eine unbeirrbare Frau, die sich über sämtliche Konventionen hinwegsetzt, eine feurige Kommunistin und glühende Verehrerin Josip Broz Titos, was ihr den Übernamen «die Marschallin» einbringt. Die Enkelin erinnert, dass ihre Grossmutter keine Widerworte geduldet habe, stets auf Provokation aus war. Wäre sie keine Frau gewesen, so del Buono – die jüngere – wäre sie wahrscheinlich Staatspräsident geworden.

Ein erster Leseblock setzt während des Ersten Weltkriegs ein, im besetzten, südslowenischen Bovec, der Heimat Zora Del Buonos. Dort lernt die Protagonistin ihren späteren Ehemann, den sommersprossigen Sizilianer und führenden Radiologen Pietro del Buono kennen und lieben. Zora folgt Pietro nach Bari, wo sie sich zusammen mit ihrem Ehemann vollkommen der Idee des Kommunismus verschreibt. Unter Zoras Regie erbauen die beiden eine herrschaftliche Villa, welche die Enkelin als «das schönste Haus auf Erden» bezeichnet. Die planerischen Geschicke der Grossmutter haben zweifelsohne abgefärbt: Es waren wohl «diese Räume», welche ihre Nachfahrin zu einem Architekturstudium bewogen. Auch die Grossmäuligkeit habe sie von ihrer Grossmutter geerbt, fügt die Autorin lachend hinzu. 

Die Nachfrage von Gallus Frei Tomic, ob sie den Beruf der Schriftstellerin gemäss einem Stalinzitat als «Ingenieurin der Seele» verstehe, kommentiert die Autorin verschmitzt: «Ein bisschen, vielleicht», und präzisiert, dass sie sich noch mehr als «Beobachterin der Seele» verstehe. Und tatsächlich wird auch an diesem Thuner Sonntagnachmittag überdeutlich, dass Die Marschallin, dieser zurecht vielgerühmte Roman, ein Kunstwerk der Perspektiven ist – das die Leserschaft just an diesen Beobachtungen der Seele teilhaben lässt.

«Literatur bildet Wahlverwandtschaften»

Levin Westermann liest am zweiten Tag der literaare sowohl aus seinem Gedichtband bezüglich der Schatten als auch aus seinem Essay Ovibus Moschatus vor. Im Gespräch mit Tabea Schneider spricht er über die Dimensionen der Lyrik, der Kraft der Literatur und dem traurigen Verhältnis zwischen Mensch und Tier.

Er habe in Frankfurt gelebt und vor sich hin studiert, bis die Lyrik in sein Leben kam, denn «von da an ist alles anders gelaufen», spricht Levin Westermann ins Mikrophon. Mir wird klar, Westermann, lässig gekleidet in Shorts, Adidas-Jäckchen und Cappy, hat einiges zu erzählen.

In einem dreihundert Seiten umfassenden Roman muss es zwingenderweise Füllsätze geben, da man sonst nie und nimmer über die fünfzigste Seite hinauskommt. Bei Lyrik sei das anders, so Westermann. Man merkt in der Lyrik, wie lange an einem Satz, an einem Wort oder an einer Silbe gearbeitet wurde. Lyrik muss laut gelesen werden, denn es geht um den Klang. Wenn etwas schief klingt, dann klingt es schief – und nein, man kann diese Frequenz nicht wissenschaftlich nachweisen, man soll es auch nicht. Es geht um Intuition, um Gefühle und um den Verlass auf die eigenen Ohren.

Landschaft, ihre Zerstörung, Klimawandel und die Stellung der Tiere

Es folgt ein kurzer Exkurs, in dem Tabea Schneider charakteristische Motive von Westermanns Schaffen ins Zentrum rückt, worauf Westermann tief ein-, erschöpft wieder ausatmet und kopfnickend «ist traurig, ja», erwidert. Er hätte noch nie verstanden, wie man an einem Gehege vorbeigehen und darüber witzeln könne, dass auf der Weide lebendige Steaks stünden. Absurd sei ihm der Gedanke. Für Westermann steht ausser Zweifel, dass «die Gewalt gegen Tiere die Voraussetzung für die Gewalt gegen Menschen ist», weil eine den Menschen niedrigere, unwürdige Klasse geschaffen wurde, in die unter gewissen politischen Umständen – man denke an die Zeit des Nationalsozialismus – auch bestimmte Bevölkerungsgruppen gezwängt wurden.

«Für mich ist das Tolle an Literatur und am Schreiben», so Westermann, «dass eine Art Wahlverwandtschaften aufkommen kann.» Und ja, es stimmt: Niemand kann uns verbieten mit Schreibenden der Vergangenheit an einen Tisch zu sitzen, auch wenn diese schon seit längerer Zeit nicht mehr unter uns sind. Ihre Körper sind verstummt, ihre Stimmen sprechen weiter.

Literatur kann aber noch vieles mehr. Literatur ist das Abbild einer Zeit und produziert fortlaufend Zeitdokumente, anhand deren rückblickend gezeigt werden kann, dass wir als Menschheit noch nicht an dem Punkt sind, an dem wir – zumindest die meisten von uns – gerne sein würden. «Alles was man braucht, um darüber zu sprechen, steht seit jahrtausenden geschrieben.» Es liegt an uns, die Stimmen aufzugreifen, zu reanimieren und zu verstärken

Auf die plötzliche Stille folgt Beifall. Ich sitze da, fasziniert davon, wie Westermann im Thuner Rathaus über Literatur redet, welche Vernetzungen er in seinem Kopf anstellt, wie er seinen Begriff von Literatur zu vermitteln und komplexe Gedanken nicht simpel, aber einfach auszudrücken vermag.

Die Odyssee der O. oder von der Vergeblichkeit anzukommen

Schon Tabea Steiners einleitende Worte zu Scholls Roman tauchen den hellen Saal des Rathauses in eine nachdenkliche Stimmung. Hierher, unter die Kronleuchter-ähnlichen Lampen (auch O-förmig) und auf die gepolsterten Holzstühle passt das Wort «privilegiert» vielleicht besonders gut.

So auch zur Protagonistin O. im gleichnamigen Roman. Denn im Gegensatz zu den Frauen, die sie auf ihrer Irrfahrt aus den Wogen rettet, trägt sie ihren Pass und die Kreditkarte ihrer Mutter stets bei sich. Ist es also ein Reisebericht oder eine Fluchtgeschichte? Eigentlich keines von beiden. Wer würde auch die Odyssee der einen oder anderen dieser Kategorien zuordnen wollen? Diesen Anspruch erhebt der Text auch für sich, er will ein Epos darstellen, aber in seiner Form doch lieber frei bleiben. Die griechische, oft sehr männlich orientierte Mythologie dient der Erzählung als Folie, in die Scholl ihre weiblichen Figuren einsetzt. An Stelle der Männer sind es nun die Frauen, die eine Stimme haben, die von ihrer Vertreibung, Flucht und unterschiedlichen Erlebnissen sprechen. Auf epische Weise stranden die Figuren auf einer Plastikinsel, begegnen aber auch den mythologischen Frauengestalten Calypso, Athene und Kirke. «Sie sehen, es ist ein unheimliches, wunderliches Buch» – und damit kann die erste Lesung beginnen.

Das Vorlesen erst lässt die Form des Epos klingend erscheinen. Nebst kurzgehaltenen finden sich immer wieder lange, metrische Sätze, die vor allem bei Beschreibungen gut zur Geltung kommen. Durch Alliterationen und Assonanzen wie beispielsweise «die Schar riesiger schwarzgrauer Schweine» trägt die Stimme den Text und verdeutlicht das Metrum, das ans klassische Epos erinnert. Im Kontrast dazu stehen die Dialoge zwischen den Figuren, die einander eher kausal und umgangssprachlich begegnen; und so plaudert O. mit Kirke ganz entspannt darüber, wann sie sich das letzte Mal verliebt hat, während ihre Schiffbrüchigen auf der Insel zum Arbeiten unter schlechten Bedingungen gezwungen werden.

Daher ist die Frage im anschliessenden Gespräch auch gerechtfertigt: Ist O. eine Heldin? O.s Egoismus, der ihr Heldenbild erheblich stört, führt dann auch schon zum Machtdiskurs. Der Roman ist ein Versuch zu erzählen, was passiert, wenn Frauen in die Machtposition rücken. Das positive Bild, das oft vom Matriarchat gegenüber dem Patriarchat gezeichnet wird, wird hier vergeblich gesucht: Auch die weibliche Führungsperson verfällt dem Egoismus und dem Vergessen der anderen. Diese anderen kann die Autorin dank Recherchen und Gesprächen aber trotzdem gut abbilden. Dies zeigt sich auch im zweiten Leseblock, in dem der Fokus auf der Ausbeutung der gestrandeten Frauen liegt und ihnen in ihrem Leid trotzdem Stimmen verleiht, mit der sie sich auch gegenseitig Mut machen. Scholl liest auch ein Stück vom Ende vor. Denn letztlich endet O.s Reise dort, wo sie begonnen hat, und sie bleibt die einzige der Irrfahrerinnen, die ohne Probleme dort aufgenommen wird. Die anderen Figuren scheitern am Mangel an Privilegien und deutschen Komposita, die auch das Publikum peinlich berührt zum Schmunzeln bringen. Die Vergeblichkeit, so Scholl, sei schon tief in der Bedeutung der Odyssee vorhanden. Der Stoff deute auf die Vergeblichkeit, anzukommen – und da wäre man wieder beim Kreis. Bei O. eben.

«Letztlich bleiben sie getrennt»

Martin R. Dean präsentiert seinen Liebesroman Warum wir zusammen sind und erklärt uns, wie er anhand von sechs Paaren die absolute Dichotomie einer Beziehung definiert.

Im Zentrum des Romans steht die bröckelnde Beziehung zwischen Irma und Marc. Ihre Liebesgeschichte bettet Martin R . Dean zwischen 1999 und 2016 ein – der Anbruch und das Ende einer historische Ära, die Jahrtausendwende und der Entscheid zum Brexit.

Im Verlauf der zwanzigjährigen Ehe von Irma und Marc sei laut Dean viel passiert: Während sie sich anfänglich noch verliebt in die Augen schauten, dann eine Zeit lang wie zwei Beifahrer lebten, sitzen sie nun Rücken an Rücken aneinander und sehen dem Ende ihrer Beziehung entgegen. Diese Paarkonstellation verdeutlicht das Leitmotiv der Spiegelung, das im Roman sowie an der Gegenüberstellung von Mann und Frau festgemacht werden kann.

Im Gespräch mit Tabea Steiner führt Dean aus, inwiefern das Paar Irma und Marc die zweigeteilte Struktur des Romans spiegeln. Warum wir zusammen sind wird nämlich aus zwei unüberbrückbaren Perspektiven geschildert: Eine männliche und eine weiblich. Diese Perspektiven sollen laut Dean im Roman zwingend getrennt bleiben, denn letztendlich seien Frauen und Männer völlig unterschiedliche Wesen. Als Tabea Steiner ihn skeptische darauf anspricht, ob denn eine so absolute Dichotomie der Geschlechter heute noch tragbar sei, argumentiert Dean, dass das Zeitalter der Genderfluidität erst nach 2016 begann. Ob diese Zeitmarke von allen Menschen so gesetzt worden wäre, bleibt fraglich.

Von Ayla Florin und Stefanie Isler

«Agfange het alles schöön…»

Und das stimmt. Andreas Neeser eröffnet den heutigen literaare-Samstag im sonnendurchfluteten Rathaussal mit seinem Mundartroman Alpefisch, der die schwierige Liebesgeschichte von zwei traumatisierten Mitzwanzigern verhandelt.

Der angehende Sonderschullehrer Chrigel Brunner lehrt in der Bibliothek, wo ihm «d Baarfisfrau» Katrin mit ihrem hübschen, chinesisch anmutenden Lächeln zugleich auffällt. Brunner ist klar: «Soo chönnt öppis afoo». Auch Katrin ist angetan. Ihr gefallen Chrigels Finger und sie ist sich sicher, dass er schreibt. Doch Brunner verneint. In seinem Leben hat er bisher lediglich drei unbrauchbare Gedichte verfasst und sowieso: «Als junge Schnuufer sett me keni Büecher schriibe».

Selbstironisch nimmt Andreas Neeser an dieser Stelle Bezug auf seinen Erstlingsroman «Schattensprünge» aus dem Jahr 1995. Im Gespräch mit Céline Tapis führt der Autor aus, dass ihm bei seinem Erstling vieles gelungen sei, ihn im Nachhinein aber auch manches genervt habe. So habe «Schattensprünge» als Steinbruch-Vorlage für eine neue, zeitlose Liebesgeschichte in wortgewaltigem Ruedertalerdialekt fungiert.

Das Problem für die Sprachlosigkeit der beiden Protagonisten liegt dabei in deren Vergangenheit: Chrigel hat seinen jüngeren Bruder bei einem Verkehrsunfall verloren und Kathrin wurde über Jahre hinweg von einem Arbeitskollegen ihres Vaters missbraucht. Obwohl die beiden Protagonisten für sich selber durchaus Worte für ihre Verletzungen finden, gelingt ihnen die Kommunikation miteinander nicht. Beide verfolgen eigene Strategien, um Frieden mit ihrer Vergangenheit zu schliessen.

So wandert Chrigel beispielsweise auf den Pilatusgipfel, um sich an den verstorbenen Bruder zu erinnern, um sich über das «Bubizüg» mit Katrin klar zu werden und um sich auszumalen, wie es wäre, als «Alpefisch» in der weissen Zuckerwatten-Wolkendecke abtauchen zu können. Dass die Beziehung nicht funktioniert und dass die beiden nicht richtig zueinander finden, aber auch nicht voneinander loskommen, liegt – wie Neeser ausführt – im fehlenden Bewusstsein der Figuren: Zu vieles wurde zu lange verdrängt. Auf die Frage von Céline Tapis, ob Chrigel und Katrin nicht besser versuchen sollten, alleine zurecht zu kommen, weiss der Ruedertaler Romancier dann allerdings auch keine Antwort.

Ob der Autor seine Figuren versteht, ist letztlich auch egal. Die traurige Liebesgeschichte besticht ohnehin bereits durch ihre sprachliche Gestaltung, durch Rhythmus und Klang. Und vielleicht ist genau das das Geheimnis dieses Mundartromans: Der Plot trägt die Form.

«Mundart chunnt vo neume andersch»

Mit Alpefisch hat Andreas Neeser seinen ersten Roman auf Mundart geschrieben. Im Gespräch an der literaare erzählt er von seiner «hütige Gschicht».

Andreas Neeser hat bereits drei Erzählbände auf Mundart veröffentlicht, die alle Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre spielen. In Alpefisch greift er nun Motive seines Erstlingwerkes Schattensprünge (1995) auf, gibt dem Ganzen aber einen moderneren und mündlichen Schwung – und landet damit zum ersten Mal im Genre des Mundartromans.

Im Gespräch mit Céline Tabis bezeichnet Neeser die Mundart als seine Ursprache, seine Mutter- und Vatersprache, die ihn im Aargauischen Ruedertal verwurzle. Die Sprache im Alpefisch sei authentisch, auch wenn Neeser selbst im Alltag nicht immer im ursprünglichen Ruedertalerdialekt spricht. Seine Mundart sei lange verschüttet gewesen, an der Kantonsschule habe er sich dafür fast ein bisschen geschämt. Doch beim Schreiben seien immer mehr Wörter aus seiner Ursprache «plötzli oppsi cho».

Die Mundart komme von einem ganz eigenen Ort, so Neeser, «vo neume andersch». Es sei, als ob «es anderes Organ zueständig wär». Und auch Deutschschweizer Publikum scheint die Mundart «neume andersch» anzukommen. Ausserdem sei es eine grosse Herausforderung gewesen, die eigentlich gesprochene Sprache zu verschriftlichen, ihre Mündlichkeit in die Schriftflichkeit hinüberzuretten. Doch dass sein Alpefisch dafür ganz neue innere Ohren erreicht, scheint Andreas Neeser die Mühe wert gewesen zu sein.

Des Pudels Kern

Pandemische Zeiten sind erbarmungslos für Autor:innen und ihre Neuerscheinungen. Nicht nur die Lesungen fallen flach, auch die zauberhaften, frischgedruckten, in verlockende Umschläge eingehüllten Bücher liegen einsam und verlassen in den geschlossenen Buchhandlungen. Kaum beachtet werden nun viele von ihnen in die hinteren Reihen gerückt, denn der Berg an Neuem verdrängt die Perlen des letzten Jahres. Nicht so geschehen bei Monika Helfer. Mit grandiosem Erfolg ihres Werks «Die Bagage» hat sie sich vor gut einem Jahr von den Bestseller-Listen in den Lockdown verabschiedet, kurz darauf den Solothurner Literaturpreis mit in den Sommer genommen und bereits zu Beginn dieses Jahres mit «Vati» nachgedoppelt. Und kaum dürfen wir uns wieder zu Veranstaltungen versammeln, sitzt sie an der Eröffnungslesung der «literaare» bereit und liest. Und wie!

In zünftigem Tempo und einem entzückenden Hauch Nonchalance zurrt sie ihre Wörter zu einem Syntagma zusammen und lullt die Sinne der Zuhörer:innen ein. Wahrlich ein Genuss. Sie dynamisiert ihren Sprachfluss derart, dass zwischenzeitlich die Übersetzerin in Gebärdensprache um Tempodrosselung fleht. «Wie gelingt wohl die Übersetzung eines solchen Texts in Gestik und Mimik?», frage ich mich die ganze Zeit. Was geschieht mit einem Werk, dessen medialer Kern beseitigt wird? Was bleibt – wenn ein Teil der Sprache wegfällt – von einem Buch übrig als die blosse histoire und ist das dann noch Literatur?

Ganz nebenbei werden an dieser Lesung also zentrale literaturtheoretische Dinge thematisiert, wenn auch nicht immer freiwillig. So bekommt Moderator Benjamin Schlüer nach anfänglichen biografischen Tatsachenbezügen zu Monika Helfer grad noch die Kurve und abstrahiert doch noch zwischen Autorenrealität und Fiktion. Abseits von blossem Bestätigen eigener Thesen zum Text gelingt es ihm zusehends, ein Gespräch über die sich unweigerlich aufdrängenden Fragen nach dem Wesen des Erzählens aufzubauen. Dabei versucht er von Helfer zu erfahren, wie sie aus Erzählen und Erzähltem Fiktion baut und trifft den springenden Punkt. Hier hätte ich dem Gespräch der beiden gerne länger zugehört.

Die 16. Ausgabe literaare ist mit musikalischer Untermalung durch die Vibrafonistin Sonja Huber in literaturtheoretischer Hinsicht schwergewichtig ins Wochenende gestartet und verspricht weitere sprachliche Wohlklänge im Stundentakt. Kommet und staunet.