«Literatur bildet Wahlverwandtschaften»

Levin Westermann liest am zweiten Tag der literaare sowohl aus seinem Gedichtband bezüglich der Schatten als auch aus seinem Essay Ovibus Moschatus vor. Im Gespräch mit Tabea Schneider spricht er über die Dimensionen der Lyrik, der Kraft der Literatur und dem traurigen Verhältnis zwischen Mensch und Tier.

Er habe in Frankfurt gelebt und vor sich hin studiert, bis die Lyrik in sein Leben kam, denn «von da an ist alles anders gelaufen», spricht Levin Westermann ins Mikrophon. Mir wird klar, Westermann, lässig gekleidet in Shorts, Adidas-Jäckchen und Cappy, hat einiges zu erzählen.

In einem dreihundert Seiten umfassenden Roman muss es zwingenderweise Füllsätze geben, da man sonst nie und nimmer über die fünfzigste Seite hinauskommt. Bei Lyrik sei das anders, so Westermann. Man merkt in der Lyrik, wie lange an einem Satz, an einem Wort oder an einer Silbe gearbeitet wurde. Lyrik muss laut gelesen werden, denn es geht um den Klang. Wenn etwas schief klingt, dann klingt es schief – und nein, man kann diese Frequenz nicht wissenschaftlich nachweisen, man soll es auch nicht. Es geht um Intuition, um Gefühle und um den Verlass auf die eigenen Ohren.

Landschaft, ihre Zerstörung, Klimawandel und die Stellung der Tiere

Es folgt ein kurzer Exkurs, in dem Tabea Schneider charakteristische Motive von Westermanns Schaffen ins Zentrum rückt, worauf Westermann tief ein-, erschöpft wieder ausatmet und kopfnickend «ist traurig, ja», erwidert. Er hätte noch nie verstanden, wie man an einem Gehege vorbeigehen und darüber witzeln könne, dass auf der Weide lebendige Steaks stünden. Absurd sei ihm der Gedanke. Für Westermann steht ausser Zweifel, dass «die Gewalt gegen Tiere die Voraussetzung für die Gewalt gegen Menschen ist», weil eine den Menschen niedrigere, unwürdige Klasse geschaffen wurde, in die unter gewissen politischen Umständen – man denke an die Zeit des Nationalsozialismus – auch bestimmte Bevölkerungsgruppen gezwängt wurden.

«Für mich ist das Tolle an Literatur und am Schreiben», so Westermann, «dass eine Art Wahlverwandtschaften aufkommen kann.» Und ja, es stimmt: Niemand kann uns verbieten mit Schreibenden der Vergangenheit an einen Tisch zu sitzen, auch wenn diese schon seit längerer Zeit nicht mehr unter uns sind. Ihre Körper sind verstummt, ihre Stimmen sprechen weiter.

Literatur kann aber noch vieles mehr. Literatur ist das Abbild einer Zeit und produziert fortlaufend Zeitdokumente, anhand deren rückblickend gezeigt werden kann, dass wir als Menschheit noch nicht an dem Punkt sind, an dem wir – zumindest die meisten von uns – gerne sein würden. «Alles was man braucht, um darüber zu sprechen, steht seit jahrtausenden geschrieben.» Es liegt an uns, die Stimmen aufzugreifen, zu reanimieren und zu verstärken

Auf die plötzliche Stille folgt Beifall. Ich sitze da, fasziniert davon, wie Westermann im Thuner Rathaus über Literatur redet, welche Vernetzungen er in seinem Kopf anstellt, wie er seinen Begriff von Literatur zu vermitteln und komplexe Gedanken nicht simpel, aber einfach auszudrücken vermag.

«Die männliche Perspektive aufbrechen» – Ein Gespräch mit Sabine Scholl

Sabine Scholl, bei Ihrem jüngsten Roman O. handelt es sich um eine Umschrift eines, wenn nicht des Gründungstextes der europäischen Literatur: der Odyssee. Wie kamen Sie auf die Idee, sich ausgerechnet Homer vorzunehmen?

Das kam durch ein anderes Projekt, in dem es darum ging, die Unterwelt nachzuerleben. Eine der verschiedenen Thesen zur Situation und Lokalität der Odyssee ist, dass sie durch den starken Fokus auf Seewege und Seefahrt eine Art kodiertes Seefahrerwissen war, das damals auch eine gewisse Macht hatte. Nur wer wusste, wie man von einem zum anderen Ort kam, ohne Schiffbruch zu erleiden, konnte sich im Handel behaupten und Gebiete für sich beanspruchen. Eine andere These war, dass der Text sogar eine verkappte Weltreise darstellt. Weltreisen sollen demnach also schon damals möglich gewesen sein. Man versucht immer wieder anhand von geografischen Markern die Orte der Odyssee festzulegen. Die Unterwelt ist nach einer Theorie bei den Niagarafällen und da bin ich hingefahren und habe ein Kapitel geschrieben und viel nachgeforscht, besonders weil in der Unterwelt viele Figuren, viele Namen vorkommen, eben auch Frauen. Mich hat interessiert, was deren Geschichten sind und habe gesehen, dass sie gerade keine Geschichten haben. Da hat mich das Interesse gepackt, ich wollte ihre Geschichten konstruieren aus den überlieferten Resten. Das ist ganz ähnlich wie bei den geflüchteten Frauen, denen oft die die Mittel zum Erzählen fehlen. Ich war stark involviert in ein Schreibprojekt für und mit diesen Frauen und da hat es mich gepackt. Die Odyssee, unterwegs sein, Orte finden, scheitern, weiterfahren ist genau das, was diesen Frauen passiert ist. Ich wusste, ich musste darüber einen Roman schreiben.

Ist es nicht ein wenig anmassend, die Geschichten der geflüchteten Frauen ausgerechnet auf der Grundlage der europäischen Epik zu erzählen?

Ja und Nein. Ich glaube auch, dass der Ursprungstext sich schon aus Stimmen unterschiedlicher Herkunft zusammensetzt. Es ist ja auch kein einheitlicher Text, der von einem Mann, einer Kultur und einer Denkweise zeugt. Sondern es gibt Einflüsse verschiedenster Kulturen und Menschen unterschiedlicher Herkunft. Erst danach, als der Stoff in der Schrift festgehalten wurde, hat er sich im Überlieferungskontext kanonisiert und wurde für gewisse Zwecke gebraucht. Wenn man aber tiefer forscht, findet man noch andere Handlungsstränge. Auch Frauen treten namentlich auf, sind aber entweder Vergewaltigungsopfer oder gebären den Göttern und Helden Kinder. Sie werden oft nur auf ihren Status als Fruchtbarkeitsbomben reduziert. Es ging mir darum, diese stark betonte männliche Perspektive aufzubrechen, die in der Odyssee verankert sind und die Geschichten der Frauen zu erzählen. Da gibt es nämlich Parallelen zur Situation der Flüchtenden. In den Medien wird oft darüber berichtet, aber es sind mehr die Männer, die auf Bildern und in Berichten erscheinen. Das liegt zum einen daran, dass auch viel mehr Männer flüchten, aber auch, dass die Frauen unsichtbar bleiben. Sie haben einen ganz anderen Zugang zum Erzählen und ihre Perspektive hat mir in diesem Diskurs gefehlt und ich wollte ihnen einen Raum geben. Ich stehe dazu, ich habe mir das angemasst.

Welche Bedeutung haben Stimmen und Polyphonie für Ihr Wirken als Autorin?

Das ist ein ganz wesentliches Prinzip, das ich schon in meinem frühen Wirken verfolgt habe. Wenn ich einen Komplex bearbeiten möchte und eine Geschichte erzähle, möchte ich Blicke aus verschiedenen Perspektiven auf das Geschehen werfen. Erst dadurch entwickelt sich das Objekt, das ich beschreibe. Dabei tritt keine allwissende Erzählerin auf, die immer alles schon weiss und eine Denkrichtung vorgibt. Durch viel Recherche und auch Begegnungen kreiere ich diese vielen Stimmen. Am Anfang steht auch der Wunsch nach Dokumentation. Die vielen Begegnungen, die ich habe, verschaffen mir Zugang zu Blickwinkeln, die ich mir gar nicht ausdenken könnte.

Welche Rolle kommt den Frauenkörpern dabei zu?

Körper sind sehr wesentlich. Über Körper können wir uns einfühlen und uns Erfahrungen nähern. Das geht mir selbst so. Die schwierige Zeit in der Pandemie hat uns allen verdeutlicht, wieviel wir über unseren Körper wahrnehmen und dass keine Zoomgespräche dies ersetzen können, weil sie eben flach sind. Viele Signale, die wir einander beim Sprechen geben, gehen überhaupt nicht mit in die Sprache ein. Über die Frauenkörper als Fokus können Lesende viel mehr aus der Erzählung mitnehmen. Auch schwierige Sachen können körperlich einfacher übermittelt werden. Einen Körper haben wir alle und wenn wir mit dem eigenen Körper anderen gegenübertreten, können wir uns gegen Empathie gar nicht mehr wehren.

Worin sehen Sie die Vorteile und Gesetze der Fiktion im Schreibprozess?

Die Gesetze des Schreibens mit Blick auf einen Roman erfordern eine gewisse Dramaturgie mit Gegensätzen und Spannungsaufbau. Das muss man als Schreibende dann einfügen. Rhetorische Mittel rahmen die Erzählungen ein, sodass man die Geschichten besser anschauen kann. Die Fiktion und besonders auch die Sprache, der ich mich bediene, führen zu einer Verdichtung des Erzählten. Aber genau wie bei den Gesprächen, die ich führe, verlasse ich mich auch beim Schreiben auf die Intuition. Da spielt auch wieder die Erfahrung mit rein, da ich auch schon viel über reale Menschen geschrieben habe, die das, was ich über sie geschrieben habe, dann auch für richtig befunden haben.

Einfach O. – ist das ein Symbol, einfach ein Kreis oder gar ein Link zur Marquise von O.?

Nein, letzteres sicher nicht, auch wenn das viele denken. Es ist eher ein Symbol für Bewegung. Es bildet auch einen Zyklus ab, in dem Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit ineinander greifen. Wenn ich ehrlich bin, mochte ich das auch immer in der New York Times, wenn die Namen immer mit einem Buchstaben abgekürzt waren (lacht). Ich fand das immer schon cool. Von Anfang an stand fest, die Protagonistin heisst «O». Punkt. Es sieht aber auch ein wenig aus wie ein Loch. Es gibt diese eine Szene, in der O. Löcher häkelt. Da sehe ich mich selbst, ich kann selbst nicht so gut nähen oder allgemein Textilien bearbeiten, aber ich webe oder nähe mit Sprache und so ist auch dieser Roman entstanden. Er ist eben mein Textil und mein O.

«er hets gnoo ghaa» – über literarische Mundart.
Ein Gespräch mit Andreas Neeser

Göfichöpfli, Tschuderet, Tamisiech – Andreas Neeser: Was ist anders, wenn man auf Mundart schreibt?

Das Schreiben per se wird nicht stark beeinflusst. Ungeachtet in welcher Sprache geschrieben wird, ist es wichtig, dass der Plot konsistent ist und die erzählerische Dramaturgie stimmt. Grössere Unterschiede zeigen sich jedoch auf der der lexikalischen, syntaktischen und grammatikalischen Ebene. Wenn man das in der Mundart eher umständliche Plusquamperfekt «er hets gnoo ghaa» wegdenkt, dann stehen uns lediglich zwei Zeiten, nämlich das Präsens und Perfekt, zur Verfügung, was, wenn man an Geschichten mit komplexer erzählerischer Chronologie (etwa mit Analepsen) denkt, eine grosse Herausforderung ist. Die grösste Challenge, aber auch die grösste Freude, sehe ich darin, dass das literarische Erzählen immer der Mündlichkeit der Mundart entsprechen muss.

Hätte Alpefisch die gleiche Wirkung, wenn die Erzählung auf Hochdeutsch erschienen wäre?

Nein, davon bin ich sehr überzeugt. Aber das trifft nicht nur auf meinen Roman, sondern auf die Mundart generell zu. Viele Redewandungen und Ausdrücke liessen sich nicht eins zu eins ins Hochdeutsche übersetzen ohne an Wirkung zu verlieren. Darin steckt schlussendlich auch die Faszination, wenn man auf Mundart schreibt. Man denke an Ausdrücke wie «obsi choo» – um dasselbe auf Hochdeutsch auszudrücken, benötigte man mehrere Sätze, während man in der Mundart genau ein Wort dafür verwendet. Darin sehe ich sowohl einen inhaltlichen, wie auch einen sprachlichen Reichtum. Ich denke, dass die Mundart häufig zu unrecht belächelt wird.

In der Fragerunde nach Ihrer Lesung kritisierte eine Frau, dass in ihrem Roman Alpefisch altertümliches Vokabular verwendet wird. Wie stehen Sie zum Sprachwandel in der Mundart?

Mein Anspruch war nie, den Archivar der Mundart zu spielen. Vielmehr bin ich der Meinung, dass die Sprache etwas Lebendiges ist, das sich im Laufe der Zeit verändern soll und darf. Ich verstehe nicht, weshalb man Veränderungen in einer Sprache bedauern soll. Wieso sollten Anglizismen die deutsche Sprache zerstören? Man muss bedenken, dass das Vokabular der Mundart sehr ländlich geprägt ist, weil sich die Bevölkerung früher wesentlich aus Bauern zusammensetze und technische Berufe weitgehend fehlten. Die neueren technischen Errungenschaften sind nunmal grösstenteils englisch benannt und – Hand aufs Herz: Welches Kind denkt, dass «Computer» kein Mundartwort ist? Seitdem ich auf Mundart publiziere, fällt mir übrigens vermehrt auf, wie viel Emotion in der Mundart steckt. Eine Emotion, die sogar so weit führt, dass ich Mails erhalte, in welchen sich Personen darüber aufregen, dass in einer Erzählung ein Wort mit einem /t/ anstatt mit einem /d/ geschrieben wird. Wäre die Erzählung hingegen auf Hochdeutsch geschrieben, wäre der Fall klar: ein Buchstabe in einem ganzen Roman – who cares! Es ist faszinierend, wie sehr sich die Menschen trotz teils modernisiertem Vorkabular mit ihrer Mundart identifizieren.

Im Hochdeutschen gibt es klare Regeln, wie geschrieben werden muss. In der Mundart sieht das anders aus. Sie schreiben «ggange» mit zwei /g/, «gross» aber nur mit einem /g/ – weshalb?

Obwohl man Mundart im Grunde so schreiben kann, wie man möchte, ist es wichtig, dass man ein konsistentes System entwickelt und beibehält. Mit Blick auf «ggange» und «gross» ist es nun mal so, dass es sich um zwei verschiedene Laute handelt. Bei solchen Angelegenheiten gilt es eine Lösung zu finden, die sinnvoll ist. Den starken Konsonanten im Anlaut markiere ich deshalb mit der Verdoppelung. Bei «schlooffe» und «Goofe» müsste ich die unterschiedliche Lautung des /o/ mit einem Akzent markieren. Das tue ich nicht, weil es mir zu akademisch erscheint. Aber nur schon, dass wir uns beim Verschriftlichen der Mundart mit solchen Problemen konfrontiert sehen, zeigt, dass man sehr schnell an ein Limit gerät.

An einer Stelle im Roman sagt Brunner: «Er het a Gschichte tänkt us em Kino, Sache, wos nid git.» – Vermag die Literatur etwas zu zeigen, das den «Sachen aus dem Kino» verwehrt bleibt?

Ich denke, dass die Literatur und das Kino das Gleiche im Sinn haben, denn beide machen das Angebot durch eine offene Türe in eine neue Welt einzutreten, in der man sich frei bewegen und nach einer gewissen Zeit wieder austreten kann. Schlussendlich sind es der Aufenthalt respektive der Austritt in und aus diesem illusionären Raum, die gutes Kino von Kino und gute Literatur von Literatur unterscheiden. Sowohl ein guter Film als auch eine gute Erzählung sollen eine Auseinandersetzung bei den Rezipient*innen auslösen, sie auf sich selbst zurückwerfen und ihnen Fragen mit auf den Weg geben.

Aber auch die Frage nach der Fiktionalisierung scheint mir in diesem Kontext wichtig zu sein, man behauptet ja häufig, dass Literatur alles könne. Theoretisch, vielleicht. In Wahrheit aber kann Literatur zum Teil nicht einmal so viel wie das echte Leben. Denn im echten Leben geschehen nicht selten unglaubliche Dinge, die man der Literatur nicht abnehmen würde.

«Als junge Schnuufer sett me keni Büecher schriibe.» Wie viel Wahrheit steckt in diesem Satz?

Sehr viel! Als junger Schnuufer möchte man die ganze Welt, alles, was man ist, und alle Überzeugungen in ein und denselben Text packen. – Das kann funktionieren. Tut es aber selten.

Das Gespräch führte Okan Yilmaz.

Die Odyssee der O. oder von der Vergeblichkeit anzukommen

Schon Tabea Steiners einleitende Worte zu Scholls Roman tauchen den hellen Saal des Rathauses in eine nachdenkliche Stimmung. Hierher, unter die Kronleuchter-ähnlichen Lampen (auch O-förmig) und auf die gepolsterten Holzstühle passt das Wort «privilegiert» vielleicht besonders gut.

So auch zur Protagonistin O. im gleichnamigen Roman. Denn im Gegensatz zu den Frauen, die sie auf ihrer Irrfahrt aus den Wogen rettet, trägt sie ihren Pass und die Kreditkarte ihrer Mutter stets bei sich. Ist es also ein Reisebericht oder eine Fluchtgeschichte? Eigentlich keines von beiden. Wer würde auch die Odyssee der einen oder anderen dieser Kategorien zuordnen wollen? Diesen Anspruch erhebt der Text auch für sich, er will ein Epos darstellen, aber in seiner Form doch lieber frei bleiben. Die griechische, oft sehr männlich orientierte Mythologie dient der Erzählung als Folie, in die Scholl ihre weiblichen Figuren einsetzt. An Stelle der Männer sind es nun die Frauen, die eine Stimme haben, die von ihrer Vertreibung, Flucht und unterschiedlichen Erlebnissen sprechen. Auf epische Weise stranden die Figuren auf einer Plastikinsel, begegnen aber auch den mythologischen Frauengestalten Calypso, Athene und Kirke. «Sie sehen, es ist ein unheimliches, wunderliches Buch» – und damit kann die erste Lesung beginnen.

Das Vorlesen erst lässt die Form des Epos klingend erscheinen. Nebst kurzgehaltenen finden sich immer wieder lange, metrische Sätze, die vor allem bei Beschreibungen gut zur Geltung kommen. Durch Alliterationen und Assonanzen wie beispielsweise «die Schar riesiger schwarzgrauer Schweine» trägt die Stimme den Text und verdeutlicht das Metrum, das ans klassische Epos erinnert. Im Kontrast dazu stehen die Dialoge zwischen den Figuren, die einander eher kausal und umgangssprachlich begegnen; und so plaudert O. mit Kirke ganz entspannt darüber, wann sie sich das letzte Mal verliebt hat, während ihre Schiffbrüchigen auf der Insel zum Arbeiten unter schlechten Bedingungen gezwungen werden.

Daher ist die Frage im anschliessenden Gespräch auch gerechtfertigt: Ist O. eine Heldin? O.s Egoismus, der ihr Heldenbild erheblich stört, führt dann auch schon zum Machtdiskurs. Der Roman ist ein Versuch zu erzählen, was passiert, wenn Frauen in die Machtposition rücken. Das positive Bild, das oft vom Matriarchat gegenüber dem Patriarchat gezeichnet wird, wird hier vergeblich gesucht: Auch die weibliche Führungsperson verfällt dem Egoismus und dem Vergessen der anderen. Diese anderen kann die Autorin dank Recherchen und Gesprächen aber trotzdem gut abbilden. Dies zeigt sich auch im zweiten Leseblock, in dem der Fokus auf der Ausbeutung der gestrandeten Frauen liegt und ihnen in ihrem Leid trotzdem Stimmen verleiht, mit der sie sich auch gegenseitig Mut machen. Scholl liest auch ein Stück vom Ende vor. Denn letztlich endet O.s Reise dort, wo sie begonnen hat, und sie bleibt die einzige der Irrfahrerinnen, die ohne Probleme dort aufgenommen wird. Die anderen Figuren scheitern am Mangel an Privilegien und deutschen Komposita, die auch das Publikum peinlich berührt zum Schmunzeln bringen. Die Vergeblichkeit, so Scholl, sei schon tief in der Bedeutung der Odyssee vorhanden. Der Stoff deute auf die Vergeblichkeit, anzukommen – und da wäre man wieder beim Kreis. Bei O. eben.

«Letztlich bleiben sie getrennt»

Martin R. Dean präsentiert seinen Liebesroman Warum wir zusammen sind und erklärt uns, wie er anhand von sechs Paaren die absolute Dichotomie einer Beziehung definiert.

Im Zentrum des Romans steht die bröckelnde Beziehung zwischen Irma und Marc. Ihre Liebesgeschichte bettet Martin R . Dean zwischen 1999 und 2016 ein – der Anbruch und das Ende einer historische Ära, die Jahrtausendwende und der Entscheid zum Brexit.

Im Verlauf der zwanzigjährigen Ehe von Irma und Marc sei laut Dean viel passiert: Während sie sich anfänglich noch verliebt in die Augen schauten, dann eine Zeit lang wie zwei Beifahrer lebten, sitzen sie nun Rücken an Rücken aneinander und sehen dem Ende ihrer Beziehung entgegen. Diese Paarkonstellation verdeutlicht das Leitmotiv der Spiegelung, das im Roman sowie an der Gegenüberstellung von Mann und Frau festgemacht werden kann.

Im Gespräch mit Tabea Steiner führt Dean aus, inwiefern das Paar Irma und Marc die zweigeteilte Struktur des Romans spiegeln. Warum wir zusammen sind wird nämlich aus zwei unüberbrückbaren Perspektiven geschildert: Eine männliche und eine weiblich. Diese Perspektiven sollen laut Dean im Roman zwingend getrennt bleiben, denn letztendlich seien Frauen und Männer völlig unterschiedliche Wesen. Als Tabea Steiner ihn skeptische darauf anspricht, ob denn eine so absolute Dichotomie der Geschlechter heute noch tragbar sei, argumentiert Dean, dass das Zeitalter der Genderfluidität erst nach 2016 begann. Ob diese Zeitmarke von allen Menschen so gesetzt worden wäre, bleibt fraglich.

Von Ayla Florin und Stefanie Isler

«Agfange het alles schöön…»

Und das stimmt. Andreas Neeser eröffnet den heutigen literaare-Samstag im sonnendurchfluteten Rathaussal mit seinem Mundartroman Alpefisch, der die schwierige Liebesgeschichte von zwei traumatisierten Mitzwanzigern verhandelt.

Der angehende Sonderschullehrer Chrigel Brunner lehrt in der Bibliothek, wo ihm «d Baarfisfrau» Katrin mit ihrem hübschen, chinesisch anmutenden Lächeln zugleich auffällt. Brunner ist klar: «Soo chönnt öppis afoo». Auch Katrin ist angetan. Ihr gefallen Chrigels Finger und sie ist sich sicher, dass er schreibt. Doch Brunner verneint. In seinem Leben hat er bisher lediglich drei unbrauchbare Gedichte verfasst und sowieso: «Als junge Schnuufer sett me keni Büecher schriibe».

Selbstironisch nimmt Andreas Neeser an dieser Stelle Bezug auf seinen Erstlingsroman «Schattensprünge» aus dem Jahr 1995. Im Gespräch mit Céline Tapis führt der Autor aus, dass ihm bei seinem Erstling vieles gelungen sei, ihn im Nachhinein aber auch manches genervt habe. So habe «Schattensprünge» als Steinbruch-Vorlage für eine neue, zeitlose Liebesgeschichte in wortgewaltigem Ruedertalerdialekt fungiert.

Das Problem für die Sprachlosigkeit der beiden Protagonisten liegt dabei in deren Vergangenheit: Chrigel hat seinen jüngeren Bruder bei einem Verkehrsunfall verloren und Kathrin wurde über Jahre hinweg von einem Arbeitskollegen ihres Vaters missbraucht. Obwohl die beiden Protagonisten für sich selber durchaus Worte für ihre Verletzungen finden, gelingt ihnen die Kommunikation miteinander nicht. Beide verfolgen eigene Strategien, um Frieden mit ihrer Vergangenheit zu schliessen.

So wandert Chrigel beispielsweise auf den Pilatusgipfel, um sich an den verstorbenen Bruder zu erinnern, um sich über das «Bubizüg» mit Katrin klar zu werden und um sich auszumalen, wie es wäre, als «Alpefisch» in der weissen Zuckerwatten-Wolkendecke abtauchen zu können. Dass die Beziehung nicht funktioniert und dass die beiden nicht richtig zueinander finden, aber auch nicht voneinander loskommen, liegt – wie Neeser ausführt – im fehlenden Bewusstsein der Figuren: Zu vieles wurde zu lange verdrängt. Auf die Frage von Céline Tapis, ob Chrigel und Katrin nicht besser versuchen sollten, alleine zurecht zu kommen, weiss der Ruedertaler Romancier dann allerdings auch keine Antwort.

Ob der Autor seine Figuren versteht, ist letztlich auch egal. Die traurige Liebesgeschichte besticht ohnehin bereits durch ihre sprachliche Gestaltung, durch Rhythmus und Klang. Und vielleicht ist genau das das Geheimnis dieses Mundartromans: Der Plot trägt die Form.

«Mundart chunnt vo neume andersch»

Mit Alpefisch hat Andreas Neeser seinen ersten Roman auf Mundart geschrieben. Im Gespräch an der literaare erzählt er von seiner «hütige Gschicht».

Andreas Neeser hat bereits drei Erzählbände auf Mundart veröffentlicht, die alle Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre spielen. In Alpefisch greift er nun Motive seines Erstlingwerkes Schattensprünge (1995) auf, gibt dem Ganzen aber einen moderneren und mündlichen Schwung – und landet damit zum ersten Mal im Genre des Mundartromans.

Im Gespräch mit Céline Tabis bezeichnet Neeser die Mundart als seine Ursprache, seine Mutter- und Vatersprache, die ihn im Aargauischen Ruedertal verwurzle. Die Sprache im Alpefisch sei authentisch, auch wenn Neeser selbst im Alltag nicht immer im ursprünglichen Ruedertalerdialekt spricht. Seine Mundart sei lange verschüttet gewesen, an der Kantonsschule habe er sich dafür fast ein bisschen geschämt. Doch beim Schreiben seien immer mehr Wörter aus seiner Ursprache «plötzli oppsi cho».

Die Mundart komme von einem ganz eigenen Ort, so Neeser, «vo neume andersch». Es sei, als ob «es anderes Organ zueständig wär». Und auch Deutschschweizer Publikum scheint die Mundart «neume andersch» anzukommen. Ausserdem sei es eine grosse Herausforderung gewesen, die eigentlich gesprochene Sprache zu verschriftlichen, ihre Mündlichkeit in die Schriftflichkeit hinüberzuretten. Doch dass sein Alpefisch dafür ganz neue innere Ohren erreicht, scheint Andreas Neeser die Mühe wert gewesen zu sein.