Die Wirklichkeit: «…es gibt sie da draussen, sie tut weh.»
Ann Cotten im Gespräch mit Paul Jandl

Der österreichische Kulturjournalist Paul Jandl, bekannt als Literaturkritiker der NZZ, verortet an diesem Nachmittag Ann Cottens literarische Werke in den «Spielräume[n] zwischen Bullshit und Emphase». Wahrnehmung, Wirklichkeit – der Schauder – Physik, Mathematik als Gegenstände und Motive beschäftigen die Texte der gebürtigen Amerikanerin, die ein Flair dafür hat Wissenschaftlichkeit mit Poesie zu verbinden. Mit ihrer Übersetzung von Pippins Tochters Taschentuch, einem Roman von Rosmarie Waldrop, wurde die Schriftstellerin für den Leipziger Buchpreis 2021 nominiert.

Das Schaudern und der «Kippeffekt»

Um die Wirklichkeit zu begreifen bedarf es gemäss Ann Cotten einer Balance zwischen Fakten und Philosophie, denn die Wirklichkeit als «flüchtiges Ding», die kaum greifbar ist, manifestiert sich im Denken – kollektiv oder individuell – zu etwas Verständlichem. Ausgehend von diesem «Wirklichkeitsbegriff» (der eben keiner sein kann), schlägt Paul Jandel gekonnt den Bogen zum Motiv des Schauderns. Abwägend und an manchen Stellen nur annähernd, deuten Ann Cottens Texte einen Kippeffekt an. Sei es in der Neugierde, in der subjektiven Wahrnehmung äusserlichen Veränderungen oder im Dämmerzustand zwischen Traum und Wachzustand: Im Hin und Her findet sich der Schauder, das Kippen vom Einen zum Anderen, wobei Bewegung ins Spiel und Text gebracht werden.

An der Fülle geht der Sinn der Literatur vorbei»

Auf die Frage von Paul Jandl, wie Subjektivität in diese schaudernden Zwischenräume hineinspielt, erklärt Ann Cotten ihr Interesse am Experiment, das Verlangen, ein «sicheres Terrain» erschreiben zu wollen. Unter der Prämisse, dass, um zu kommunizieren, Verständnisüberschneidungen vorhanden sein müssen, stellt sie ihre subjektive Wahrnehmung bewusst zurück und formuliert Texte, die eine kollektive Klarheit vermitteln sollen. Die Kunst, eine solch kollektive Wirklichkeit zu formulieren, liege darin, ein Gleichgewicht zwischen der immensen Freiheit, die die Sprache bietet – und im Zweifel einen Vergleich verunmöglicht –, und der gezielten Verwendung von Wort, Metapher und Form herzustellen. Es sei jedoch nicht alles rigoros durchstrukturiert, wie Ann Cotten Christian Metz› Deutung von Teilen ihres ersten Werks Fremdwörterbuchsonette kritisiert. An der Fülle von hineininterpretierender Analyse ginge der Sinn ihrer Literatur vorbei.

Der schaudernde Fächer

Das Inspirationsmoment für das Motiv des Schauders, des Zitterns, des Auffächerns von Begrifflichkeiten erlebte Ann Cotten bei einer Burlesqueshow, wobei Tänzerinnen Pfauenfederfächer kunstvoll in Szene setzten und nur das leichte Zittern der Federn die Anstrengung der Darstellerinnen vermuten liess. Eine weitere Inspirationsquelle fand die Schriftstellerin in einem bestimmten, japanischen Genre der Comedy, in welchem die Darstellenden lediglich mit und durch das Objekt Fächer erzählen. Ihr Werk Der schaudernde Fächer versteht sich mitunter als ein «Spielen mit diesem transkulturellem Kitsch», der sich in darstellerischen Kunstformen offenbart. Erst später entdeckte sie in der Auseinandersetzung mit der ostasiatischen Kultur das japanische Literaturgenre der Ich-Erzählung für sich, welches sie als unaffektiert frisch und unmittelbar präzise empfindet. Auf der Ebene des persönlichen Erlebens im Kontrast zum kollektiven (globalen) Wissen eröffne sich eine Art krypto-traumatische Erfahrung des Selbst.

Spiral-Hegel und die Natur

Die Schriftstellerin orientiert sich beim Schreiben lieber an der Natur, reagiert auch mal auf Zufälligkeiten, auf Fehler, die sogar strukturgebend sein können und vertraut dabei auf ihre Fähigkeit, Langweiliges zu streichen. Dabei ist es ihr wichtiger, die naturgegebene, entspannte Komplexität zu begreifen, als ihren Gegendstand streng kontrolliert durchzuarbeiten.

Ein solch geglückter Fehler der Natur ist die Spirale: die Spirale als Symbol für die Dialektik, die in einer beinahe endlosen Schleife weitergedacht werden kann. Am Beispiel der Rezeption Hegels im Japan der 1920er Jahre präzisiert Cotten ihre These, dass die etymologisch europäischen Philosophiebegriffe über das device der Abstraktion von östlichen Kulturen verstanden werden.

In einem Weltsystem, dass sich spiralförmig weiterdreht, findet in Ann Cottens Texten somit auch der Fehler seine Berechtigung – in der Berichtigung solcher ginge doch etwas verloren, meint sie lächelnd. Sie hat jedoch auch Verständnis dafür, dass ihre Leserschaft das Bedürfnis hat, sie zu verstehen, das Erzählte deshalb nicht zu abstrus wirken soll, da Verstehen die Vertrauensbasis zwischen Schriftstellerin und Rezipientinnen bildet.

Realismus und Politik

Schliesslich will Paul Jandl wissen, wie wichtig seinem Gegenüber die realistische Abbildung in ihren Texten sei. Cotten erklärt, dass sie dem Realismus auf der Ebene der Kritik eine instrumentale Bedeutung zugestehe, da der Realismus als allgemein verständliche Diskussionsgrundlage dienen kann. Sie möchte jedoch auf die symbolische Ebene, die literarische Texte mitstrukturiert, nicht verzichten. Gerade interpretative Variationen, die sich aus kulturellen Unterschieden ergeben, seien für das Verständnis von Literatur von immenser Bedeutung.

Als weit Umhergereiste spricht die Lyrikerin über politische Konstrukte und Strömungen, die ihr auffallen, wenn sie ihr auch in keiner Weise «total» erscheinen. So macht die selbstbekennende Feministin in kapitalistischen Systemen solidarisierende Einflüsse aus, während sich in sozialistischen, «gerechteren» Systemen ein unterschwelliger, anarchischer Egoismus bemerkbar mache. Auch hier wird Ann Cottens Blick für das Individuelle letztlich spürbar; ihr Ziel bleibt gleichwohl die Erschaffung einer Wirklichkeit, von der sie selbst Teil sein möchte.

Das Gespräch schliesst mit der Lesung von «Escaping Analogy», eines Textes von Rosmarie Waldrop, dessen Übersetzung gerade im Verlag Urs Engeler erschienen ist und – so gibt die Übersetzerin zu Protokoll – «sich sehr schön liest».

«Die männliche Perspektive aufbrechen» – Ein Gespräch mit Sabine Scholl

Sabine Scholl, bei Ihrem jüngsten Roman O. handelt es sich um eine Umschrift eines, wenn nicht des Gründungstextes der europäischen Literatur: der Odyssee. Wie kamen Sie auf die Idee, sich ausgerechnet Homer vorzunehmen?

Das kam durch ein anderes Projekt, in dem es darum ging, die Unterwelt nachzuerleben. Eine der verschiedenen Thesen zur Situation und Lokalität der Odyssee ist, dass sie durch den starken Fokus auf Seewege und Seefahrt eine Art kodiertes Seefahrerwissen war, das damals auch eine gewisse Macht hatte. Nur wer wusste, wie man von einem zum anderen Ort kam, ohne Schiffbruch zu erleiden, konnte sich im Handel behaupten und Gebiete für sich beanspruchen. Eine andere These war, dass der Text sogar eine verkappte Weltreise darstellt. Weltreisen sollen demnach also schon damals möglich gewesen sein. Man versucht immer wieder anhand von geografischen Markern die Orte der Odyssee festzulegen. Die Unterwelt ist nach einer Theorie bei den Niagarafällen und da bin ich hingefahren und habe ein Kapitel geschrieben und viel nachgeforscht, besonders weil in der Unterwelt viele Figuren, viele Namen vorkommen, eben auch Frauen. Mich hat interessiert, was deren Geschichten sind und habe gesehen, dass sie gerade keine Geschichten haben. Da hat mich das Interesse gepackt, ich wollte ihre Geschichten konstruieren aus den überlieferten Resten. Das ist ganz ähnlich wie bei den geflüchteten Frauen, denen oft die die Mittel zum Erzählen fehlen. Ich war stark involviert in ein Schreibprojekt für und mit diesen Frauen und da hat es mich gepackt. Die Odyssee, unterwegs sein, Orte finden, scheitern, weiterfahren ist genau das, was diesen Frauen passiert ist. Ich wusste, ich musste darüber einen Roman schreiben.

Ist es nicht ein wenig anmassend, die Geschichten der geflüchteten Frauen ausgerechnet auf der Grundlage der europäischen Epik zu erzählen?

Ja und Nein. Ich glaube auch, dass der Ursprungstext sich schon aus Stimmen unterschiedlicher Herkunft zusammensetzt. Es ist ja auch kein einheitlicher Text, der von einem Mann, einer Kultur und einer Denkweise zeugt. Sondern es gibt Einflüsse verschiedenster Kulturen und Menschen unterschiedlicher Herkunft. Erst danach, als der Stoff in der Schrift festgehalten wurde, hat er sich im Überlieferungskontext kanonisiert und wurde für gewisse Zwecke gebraucht. Wenn man aber tiefer forscht, findet man noch andere Handlungsstränge. Auch Frauen treten namentlich auf, sind aber entweder Vergewaltigungsopfer oder gebären den Göttern und Helden Kinder. Sie werden oft nur auf ihren Status als Fruchtbarkeitsbomben reduziert. Es ging mir darum, diese stark betonte männliche Perspektive aufzubrechen, die in der Odyssee verankert sind und die Geschichten der Frauen zu erzählen. Da gibt es nämlich Parallelen zur Situation der Flüchtenden. In den Medien wird oft darüber berichtet, aber es sind mehr die Männer, die auf Bildern und in Berichten erscheinen. Das liegt zum einen daran, dass auch viel mehr Männer flüchten, aber auch, dass die Frauen unsichtbar bleiben. Sie haben einen ganz anderen Zugang zum Erzählen und ihre Perspektive hat mir in diesem Diskurs gefehlt und ich wollte ihnen einen Raum geben. Ich stehe dazu, ich habe mir das angemasst.

Welche Bedeutung haben Stimmen und Polyphonie für Ihr Wirken als Autorin?

Das ist ein ganz wesentliches Prinzip, das ich schon in meinem frühen Wirken verfolgt habe. Wenn ich einen Komplex bearbeiten möchte und eine Geschichte erzähle, möchte ich Blicke aus verschiedenen Perspektiven auf das Geschehen werfen. Erst dadurch entwickelt sich das Objekt, das ich beschreibe. Dabei tritt keine allwissende Erzählerin auf, die immer alles schon weiss und eine Denkrichtung vorgibt. Durch viel Recherche und auch Begegnungen kreiere ich diese vielen Stimmen. Am Anfang steht auch der Wunsch nach Dokumentation. Die vielen Begegnungen, die ich habe, verschaffen mir Zugang zu Blickwinkeln, die ich mir gar nicht ausdenken könnte.

Welche Rolle kommt den Frauenkörpern dabei zu?

Körper sind sehr wesentlich. Über Körper können wir uns einfühlen und uns Erfahrungen nähern. Das geht mir selbst so. Die schwierige Zeit in der Pandemie hat uns allen verdeutlicht, wieviel wir über unseren Körper wahrnehmen und dass keine Zoomgespräche dies ersetzen können, weil sie eben flach sind. Viele Signale, die wir einander beim Sprechen geben, gehen überhaupt nicht mit in die Sprache ein. Über die Frauenkörper als Fokus können Lesende viel mehr aus der Erzählung mitnehmen. Auch schwierige Sachen können körperlich einfacher übermittelt werden. Einen Körper haben wir alle und wenn wir mit dem eigenen Körper anderen gegenübertreten, können wir uns gegen Empathie gar nicht mehr wehren.

Worin sehen Sie die Vorteile und Gesetze der Fiktion im Schreibprozess?

Die Gesetze des Schreibens mit Blick auf einen Roman erfordern eine gewisse Dramaturgie mit Gegensätzen und Spannungsaufbau. Das muss man als Schreibende dann einfügen. Rhetorische Mittel rahmen die Erzählungen ein, sodass man die Geschichten besser anschauen kann. Die Fiktion und besonders auch die Sprache, der ich mich bediene, führen zu einer Verdichtung des Erzählten. Aber genau wie bei den Gesprächen, die ich führe, verlasse ich mich auch beim Schreiben auf die Intuition. Da spielt auch wieder die Erfahrung mit rein, da ich auch schon viel über reale Menschen geschrieben habe, die das, was ich über sie geschrieben habe, dann auch für richtig befunden haben.

Einfach O. – ist das ein Symbol, einfach ein Kreis oder gar ein Link zur Marquise von O.?

Nein, letzteres sicher nicht, auch wenn das viele denken. Es ist eher ein Symbol für Bewegung. Es bildet auch einen Zyklus ab, in dem Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit ineinander greifen. Wenn ich ehrlich bin, mochte ich das auch immer in der New York Times, wenn die Namen immer mit einem Buchstaben abgekürzt waren (lacht). Ich fand das immer schon cool. Von Anfang an stand fest, die Protagonistin heisst «O». Punkt. Es sieht aber auch ein wenig aus wie ein Loch. Es gibt diese eine Szene, in der O. Löcher häkelt. Da sehe ich mich selbst, ich kann selbst nicht so gut nähen oder allgemein Textilien bearbeiten, aber ich webe oder nähe mit Sprache und so ist auch dieser Roman entstanden. Er ist eben mein Textil und mein O.

«er hets gnoo ghaa» – über literarische Mundart.
Ein Gespräch mit Andreas Neeser

Göfichöpfli, Tschuderet, Tamisiech – Andreas Neeser: Was ist anders, wenn man auf Mundart schreibt?

Das Schreiben per se wird nicht stark beeinflusst. Ungeachtet in welcher Sprache geschrieben wird, ist es wichtig, dass der Plot konsistent ist und die erzählerische Dramaturgie stimmt. Grössere Unterschiede zeigen sich jedoch auf der der lexikalischen, syntaktischen und grammatikalischen Ebene. Wenn man das in der Mundart eher umständliche Plusquamperfekt «er hets gnoo ghaa» wegdenkt, dann stehen uns lediglich zwei Zeiten, nämlich das Präsens und Perfekt, zur Verfügung, was, wenn man an Geschichten mit komplexer erzählerischer Chronologie (etwa mit Analepsen) denkt, eine grosse Herausforderung ist. Die grösste Challenge, aber auch die grösste Freude, sehe ich darin, dass das literarische Erzählen immer der Mündlichkeit der Mundart entsprechen muss.

Hätte Alpefisch die gleiche Wirkung, wenn die Erzählung auf Hochdeutsch erschienen wäre?

Nein, davon bin ich sehr überzeugt. Aber das trifft nicht nur auf meinen Roman, sondern auf die Mundart generell zu. Viele Redewandungen und Ausdrücke liessen sich nicht eins zu eins ins Hochdeutsche übersetzen ohne an Wirkung zu verlieren. Darin steckt schlussendlich auch die Faszination, wenn man auf Mundart schreibt. Man denke an Ausdrücke wie «obsi choo» – um dasselbe auf Hochdeutsch auszudrücken, benötigte man mehrere Sätze, während man in der Mundart genau ein Wort dafür verwendet. Darin sehe ich sowohl einen inhaltlichen, wie auch einen sprachlichen Reichtum. Ich denke, dass die Mundart häufig zu unrecht belächelt wird.

In der Fragerunde nach Ihrer Lesung kritisierte eine Frau, dass in ihrem Roman Alpefisch altertümliches Vokabular verwendet wird. Wie stehen Sie zum Sprachwandel in der Mundart?

Mein Anspruch war nie, den Archivar der Mundart zu spielen. Vielmehr bin ich der Meinung, dass die Sprache etwas Lebendiges ist, das sich im Laufe der Zeit verändern soll und darf. Ich verstehe nicht, weshalb man Veränderungen in einer Sprache bedauern soll. Wieso sollten Anglizismen die deutsche Sprache zerstören? Man muss bedenken, dass das Vokabular der Mundart sehr ländlich geprägt ist, weil sich die Bevölkerung früher wesentlich aus Bauern zusammensetze und technische Berufe weitgehend fehlten. Die neueren technischen Errungenschaften sind nunmal grösstenteils englisch benannt und – Hand aufs Herz: Welches Kind denkt, dass «Computer» kein Mundartwort ist? Seitdem ich auf Mundart publiziere, fällt mir übrigens vermehrt auf, wie viel Emotion in der Mundart steckt. Eine Emotion, die sogar so weit führt, dass ich Mails erhalte, in welchen sich Personen darüber aufregen, dass in einer Erzählung ein Wort mit einem /t/ anstatt mit einem /d/ geschrieben wird. Wäre die Erzählung hingegen auf Hochdeutsch geschrieben, wäre der Fall klar: ein Buchstabe in einem ganzen Roman – who cares! Es ist faszinierend, wie sehr sich die Menschen trotz teils modernisiertem Vorkabular mit ihrer Mundart identifizieren.

Im Hochdeutschen gibt es klare Regeln, wie geschrieben werden muss. In der Mundart sieht das anders aus. Sie schreiben «ggange» mit zwei /g/, «gross» aber nur mit einem /g/ – weshalb?

Obwohl man Mundart im Grunde so schreiben kann, wie man möchte, ist es wichtig, dass man ein konsistentes System entwickelt und beibehält. Mit Blick auf «ggange» und «gross» ist es nun mal so, dass es sich um zwei verschiedene Laute handelt. Bei solchen Angelegenheiten gilt es eine Lösung zu finden, die sinnvoll ist. Den starken Konsonanten im Anlaut markiere ich deshalb mit der Verdoppelung. Bei «schlooffe» und «Goofe» müsste ich die unterschiedliche Lautung des /o/ mit einem Akzent markieren. Das tue ich nicht, weil es mir zu akademisch erscheint. Aber nur schon, dass wir uns beim Verschriftlichen der Mundart mit solchen Problemen konfrontiert sehen, zeigt, dass man sehr schnell an ein Limit gerät.

An einer Stelle im Roman sagt Brunner: «Er het a Gschichte tänkt us em Kino, Sache, wos nid git.» – Vermag die Literatur etwas zu zeigen, das den «Sachen aus dem Kino» verwehrt bleibt?

Ich denke, dass die Literatur und das Kino das Gleiche im Sinn haben, denn beide machen das Angebot durch eine offene Türe in eine neue Welt einzutreten, in der man sich frei bewegen und nach einer gewissen Zeit wieder austreten kann. Schlussendlich sind es der Aufenthalt respektive der Austritt in und aus diesem illusionären Raum, die gutes Kino von Kino und gute Literatur von Literatur unterscheiden. Sowohl ein guter Film als auch eine gute Erzählung sollen eine Auseinandersetzung bei den Rezipient*innen auslösen, sie auf sich selbst zurückwerfen und ihnen Fragen mit auf den Weg geben.

Aber auch die Frage nach der Fiktionalisierung scheint mir in diesem Kontext wichtig zu sein, man behauptet ja häufig, dass Literatur alles könne. Theoretisch, vielleicht. In Wahrheit aber kann Literatur zum Teil nicht einmal so viel wie das echte Leben. Denn im echten Leben geschehen nicht selten unglaubliche Dinge, die man der Literatur nicht abnehmen würde.

«Als junge Schnuufer sett me keni Büecher schriibe.» Wie viel Wahrheit steckt in diesem Satz?

Sehr viel! Als junger Schnuufer möchte man die ganze Welt, alles, was man ist, und alle Überzeugungen in ein und denselben Text packen. – Das kann funktionieren. Tut es aber selten.

Das Gespräch führte Okan Yilmaz.