«Literatur bildet Wahlverwandtschaften»

Levin Westermann liest am zweiten Tag der literaare sowohl aus seinem Gedichtband bezüglich der Schatten als auch aus seinem Essay Ovibus Moschatus vor. Im Gespräch mit Tabea Schneider spricht er über die Dimensionen der Lyrik, der Kraft der Literatur und dem traurigen Verhältnis zwischen Mensch und Tier.

Er habe in Frankfurt gelebt und vor sich hin studiert, bis die Lyrik in sein Leben kam, denn «von da an ist alles anders gelaufen», spricht Levin Westermann ins Mikrophon. Mir wird klar, Westermann, lässig gekleidet in Shorts, Adidas-Jäckchen und Cappy, hat einiges zu erzählen.

In einem dreihundert Seiten umfassenden Roman muss es zwingenderweise Füllsätze geben, da man sonst nie und nimmer über die fünfzigste Seite hinauskommt. Bei Lyrik sei das anders, so Westermann. Man merkt in der Lyrik, wie lange an einem Satz, an einem Wort oder an einer Silbe gearbeitet wurde. Lyrik muss laut gelesen werden, denn es geht um den Klang. Wenn etwas schief klingt, dann klingt es schief – und nein, man kann diese Frequenz nicht wissenschaftlich nachweisen, man soll es auch nicht. Es geht um Intuition, um Gefühle und um den Verlass auf die eigenen Ohren.

Landschaft, ihre Zerstörung, Klimawandel und die Stellung der Tiere

Es folgt ein kurzer Exkurs, in dem Tabea Schneider charakteristische Motive von Westermanns Schaffen ins Zentrum rückt, worauf Westermann tief ein-, erschöpft wieder ausatmet und kopfnickend «ist traurig, ja», erwidert. Er hätte noch nie verstanden, wie man an einem Gehege vorbeigehen und darüber witzeln könne, dass auf der Weide lebendige Steaks stünden. Absurd sei ihm der Gedanke. Für Westermann steht ausser Zweifel, dass «die Gewalt gegen Tiere die Voraussetzung für die Gewalt gegen Menschen ist», weil eine den Menschen niedrigere, unwürdige Klasse geschaffen wurde, in die unter gewissen politischen Umständen – man denke an die Zeit des Nationalsozialismus – auch bestimmte Bevölkerungsgruppen gezwängt wurden.

«Für mich ist das Tolle an Literatur und am Schreiben», so Westermann, «dass eine Art Wahlverwandtschaften aufkommen kann.» Und ja, es stimmt: Niemand kann uns verbieten mit Schreibenden der Vergangenheit an einen Tisch zu sitzen, auch wenn diese schon seit längerer Zeit nicht mehr unter uns sind. Ihre Körper sind verstummt, ihre Stimmen sprechen weiter.

Literatur kann aber noch vieles mehr. Literatur ist das Abbild einer Zeit und produziert fortlaufend Zeitdokumente, anhand deren rückblickend gezeigt werden kann, dass wir als Menschheit noch nicht an dem Punkt sind, an dem wir – zumindest die meisten von uns – gerne sein würden. «Alles was man braucht, um darüber zu sprechen, steht seit jahrtausenden geschrieben.» Es liegt an uns, die Stimmen aufzugreifen, zu reanimieren und zu verstärken

Auf die plötzliche Stille folgt Beifall. Ich sitze da, fasziniert davon, wie Westermann im Thuner Rathaus über Literatur redet, welche Vernetzungen er in seinem Kopf anstellt, wie er seinen Begriff von Literatur zu vermitteln und komplexe Gedanken nicht simpel, aber einfach auszudrücken vermag.

«er hets gnoo ghaa» – über literarische Mundart.
Ein Gespräch mit Andreas Neeser

Göfichöpfli, Tschuderet, Tamisiech – Andreas Neeser: Was ist anders, wenn man auf Mundart schreibt?

Das Schreiben per se wird nicht stark beeinflusst. Ungeachtet in welcher Sprache geschrieben wird, ist es wichtig, dass der Plot konsistent ist und die erzählerische Dramaturgie stimmt. Grössere Unterschiede zeigen sich jedoch auf der der lexikalischen, syntaktischen und grammatikalischen Ebene. Wenn man das in der Mundart eher umständliche Plusquamperfekt «er hets gnoo ghaa» wegdenkt, dann stehen uns lediglich zwei Zeiten, nämlich das Präsens und Perfekt, zur Verfügung, was, wenn man an Geschichten mit komplexer erzählerischer Chronologie (etwa mit Analepsen) denkt, eine grosse Herausforderung ist. Die grösste Challenge, aber auch die grösste Freude, sehe ich darin, dass das literarische Erzählen immer der Mündlichkeit der Mundart entsprechen muss.

Hätte Alpefisch die gleiche Wirkung, wenn die Erzählung auf Hochdeutsch erschienen wäre?

Nein, davon bin ich sehr überzeugt. Aber das trifft nicht nur auf meinen Roman, sondern auf die Mundart generell zu. Viele Redewandungen und Ausdrücke liessen sich nicht eins zu eins ins Hochdeutsche übersetzen ohne an Wirkung zu verlieren. Darin steckt schlussendlich auch die Faszination, wenn man auf Mundart schreibt. Man denke an Ausdrücke wie «obsi choo» – um dasselbe auf Hochdeutsch auszudrücken, benötigte man mehrere Sätze, während man in der Mundart genau ein Wort dafür verwendet. Darin sehe ich sowohl einen inhaltlichen, wie auch einen sprachlichen Reichtum. Ich denke, dass die Mundart häufig zu unrecht belächelt wird.

In der Fragerunde nach Ihrer Lesung kritisierte eine Frau, dass in ihrem Roman Alpefisch altertümliches Vokabular verwendet wird. Wie stehen Sie zum Sprachwandel in der Mundart?

Mein Anspruch war nie, den Archivar der Mundart zu spielen. Vielmehr bin ich der Meinung, dass die Sprache etwas Lebendiges ist, das sich im Laufe der Zeit verändern soll und darf. Ich verstehe nicht, weshalb man Veränderungen in einer Sprache bedauern soll. Wieso sollten Anglizismen die deutsche Sprache zerstören? Man muss bedenken, dass das Vokabular der Mundart sehr ländlich geprägt ist, weil sich die Bevölkerung früher wesentlich aus Bauern zusammensetze und technische Berufe weitgehend fehlten. Die neueren technischen Errungenschaften sind nunmal grösstenteils englisch benannt und – Hand aufs Herz: Welches Kind denkt, dass «Computer» kein Mundartwort ist? Seitdem ich auf Mundart publiziere, fällt mir übrigens vermehrt auf, wie viel Emotion in der Mundart steckt. Eine Emotion, die sogar so weit führt, dass ich Mails erhalte, in welchen sich Personen darüber aufregen, dass in einer Erzählung ein Wort mit einem /t/ anstatt mit einem /d/ geschrieben wird. Wäre die Erzählung hingegen auf Hochdeutsch geschrieben, wäre der Fall klar: ein Buchstabe in einem ganzen Roman – who cares! Es ist faszinierend, wie sehr sich die Menschen trotz teils modernisiertem Vorkabular mit ihrer Mundart identifizieren.

Im Hochdeutschen gibt es klare Regeln, wie geschrieben werden muss. In der Mundart sieht das anders aus. Sie schreiben «ggange» mit zwei /g/, «gross» aber nur mit einem /g/ – weshalb?

Obwohl man Mundart im Grunde so schreiben kann, wie man möchte, ist es wichtig, dass man ein konsistentes System entwickelt und beibehält. Mit Blick auf «ggange» und «gross» ist es nun mal so, dass es sich um zwei verschiedene Laute handelt. Bei solchen Angelegenheiten gilt es eine Lösung zu finden, die sinnvoll ist. Den starken Konsonanten im Anlaut markiere ich deshalb mit der Verdoppelung. Bei «schlooffe» und «Goofe» müsste ich die unterschiedliche Lautung des /o/ mit einem Akzent markieren. Das tue ich nicht, weil es mir zu akademisch erscheint. Aber nur schon, dass wir uns beim Verschriftlichen der Mundart mit solchen Problemen konfrontiert sehen, zeigt, dass man sehr schnell an ein Limit gerät.

An einer Stelle im Roman sagt Brunner: «Er het a Gschichte tänkt us em Kino, Sache, wos nid git.» – Vermag die Literatur etwas zu zeigen, das den «Sachen aus dem Kino» verwehrt bleibt?

Ich denke, dass die Literatur und das Kino das Gleiche im Sinn haben, denn beide machen das Angebot durch eine offene Türe in eine neue Welt einzutreten, in der man sich frei bewegen und nach einer gewissen Zeit wieder austreten kann. Schlussendlich sind es der Aufenthalt respektive der Austritt in und aus diesem illusionären Raum, die gutes Kino von Kino und gute Literatur von Literatur unterscheiden. Sowohl ein guter Film als auch eine gute Erzählung sollen eine Auseinandersetzung bei den Rezipient*innen auslösen, sie auf sich selbst zurückwerfen und ihnen Fragen mit auf den Weg geben.

Aber auch die Frage nach der Fiktionalisierung scheint mir in diesem Kontext wichtig zu sein, man behauptet ja häufig, dass Literatur alles könne. Theoretisch, vielleicht. In Wahrheit aber kann Literatur zum Teil nicht einmal so viel wie das echte Leben. Denn im echten Leben geschehen nicht selten unglaubliche Dinge, die man der Literatur nicht abnehmen würde.

«Als junge Schnuufer sett me keni Büecher schriibe.» Wie viel Wahrheit steckt in diesem Satz?

Sehr viel! Als junger Schnuufer möchte man die ganze Welt, alles, was man ist, und alle Überzeugungen in ein und denselben Text packen. – Das kann funktionieren. Tut es aber selten.

Das Gespräch führte Okan Yilmaz.

Unser Team in Thun:
Okan Yilmaz

Das Buchjahr war schon an Literaturfestivals, Okan nicht. Okan war schon an Musikfestivals, das Buchjahr nicht. Wer jetzt in Versuchung gerät zu denken, dass zwei Objekte unterschiedlicher nicht sein können, der oder die oder das täuscht sich, denn die beiden teilen nicht nur eine, sondern gleich zwei Gemeinsamkeiten: Beide waren noch nie an der Literaare und beide freuen sich.

Wenn Okan für eine unbestimmte Zeit auf einer Insel verweilen müsste, auf die er lediglich ein Buch und eine CD mitnehmen dürfte, dann würde er sich für Thomas Manns Der Tod in Venedig und The Fat of The Land von The Prodigy entscheiden. 

Über sich selbst in der dritten Person schreibend, fühlt sich Okan wie Dobby, der Hauself. Aber eigentlich kann er das gar nicht sein, weil es Hauselfen untersagt ist zu studieren. Okan studiert aber. Er studiert an der Universität Zürich Germanistik und Philosophie.