«Die männliche Perspektive aufbrechen» – Ein Gespräch mit Sabine Scholl

Sabine Scholl, bei Ihrem jüngsten Roman O. handelt es sich um eine Umschrift eines, wenn nicht des Gründungstextes der europäischen Literatur: der Odyssee. Wie kamen Sie auf die Idee, sich ausgerechnet Homer vorzunehmen?

Das kam durch ein anderes Projekt, in dem es darum ging, die Unterwelt nachzuerleben. Eine der verschiedenen Thesen zur Situation und Lokalität der Odyssee ist, dass sie durch den starken Fokus auf Seewege und Seefahrt eine Art kodiertes Seefahrerwissen war, das damals auch eine gewisse Macht hatte. Nur wer wusste, wie man von einem zum anderen Ort kam, ohne Schiffbruch zu erleiden, konnte sich im Handel behaupten und Gebiete für sich beanspruchen. Eine andere These war, dass der Text sogar eine verkappte Weltreise darstellt. Weltreisen sollen demnach also schon damals möglich gewesen sein. Man versucht immer wieder anhand von geografischen Markern die Orte der Odyssee festzulegen. Die Unterwelt ist nach einer Theorie bei den Niagarafällen und da bin ich hingefahren und habe ein Kapitel geschrieben und viel nachgeforscht, besonders weil in der Unterwelt viele Figuren, viele Namen vorkommen, eben auch Frauen. Mich hat interessiert, was deren Geschichten sind und habe gesehen, dass sie gerade keine Geschichten haben. Da hat mich das Interesse gepackt, ich wollte ihre Geschichten konstruieren aus den überlieferten Resten. Das ist ganz ähnlich wie bei den geflüchteten Frauen, denen oft die die Mittel zum Erzählen fehlen. Ich war stark involviert in ein Schreibprojekt für und mit diesen Frauen und da hat es mich gepackt. Die Odyssee, unterwegs sein, Orte finden, scheitern, weiterfahren ist genau das, was diesen Frauen passiert ist. Ich wusste, ich musste darüber einen Roman schreiben.

Ist es nicht ein wenig anmassend, die Geschichten der geflüchteten Frauen ausgerechnet auf der Grundlage der europäischen Epik zu erzählen?

Ja und Nein. Ich glaube auch, dass der Ursprungstext sich schon aus Stimmen unterschiedlicher Herkunft zusammensetzt. Es ist ja auch kein einheitlicher Text, der von einem Mann, einer Kultur und einer Denkweise zeugt. Sondern es gibt Einflüsse verschiedenster Kulturen und Menschen unterschiedlicher Herkunft. Erst danach, als der Stoff in der Schrift festgehalten wurde, hat er sich im Überlieferungskontext kanonisiert und wurde für gewisse Zwecke gebraucht. Wenn man aber tiefer forscht, findet man noch andere Handlungsstränge. Auch Frauen treten namentlich auf, sind aber entweder Vergewaltigungsopfer oder gebären den Göttern und Helden Kinder. Sie werden oft nur auf ihren Status als Fruchtbarkeitsbomben reduziert. Es ging mir darum, diese stark betonte männliche Perspektive aufzubrechen, die in der Odyssee verankert sind und die Geschichten der Frauen zu erzählen. Da gibt es nämlich Parallelen zur Situation der Flüchtenden. In den Medien wird oft darüber berichtet, aber es sind mehr die Männer, die auf Bildern und in Berichten erscheinen. Das liegt zum einen daran, dass auch viel mehr Männer flüchten, aber auch, dass die Frauen unsichtbar bleiben. Sie haben einen ganz anderen Zugang zum Erzählen und ihre Perspektive hat mir in diesem Diskurs gefehlt und ich wollte ihnen einen Raum geben. Ich stehe dazu, ich habe mir das angemasst.

Welche Bedeutung haben Stimmen und Polyphonie für Ihr Wirken als Autorin?

Das ist ein ganz wesentliches Prinzip, das ich schon in meinem frühen Wirken verfolgt habe. Wenn ich einen Komplex bearbeiten möchte und eine Geschichte erzähle, möchte ich Blicke aus verschiedenen Perspektiven auf das Geschehen werfen. Erst dadurch entwickelt sich das Objekt, das ich beschreibe. Dabei tritt keine allwissende Erzählerin auf, die immer alles schon weiss und eine Denkrichtung vorgibt. Durch viel Recherche und auch Begegnungen kreiere ich diese vielen Stimmen. Am Anfang steht auch der Wunsch nach Dokumentation. Die vielen Begegnungen, die ich habe, verschaffen mir Zugang zu Blickwinkeln, die ich mir gar nicht ausdenken könnte.

Welche Rolle kommt den Frauenkörpern dabei zu?

Körper sind sehr wesentlich. Über Körper können wir uns einfühlen und uns Erfahrungen nähern. Das geht mir selbst so. Die schwierige Zeit in der Pandemie hat uns allen verdeutlicht, wieviel wir über unseren Körper wahrnehmen und dass keine Zoomgespräche dies ersetzen können, weil sie eben flach sind. Viele Signale, die wir einander beim Sprechen geben, gehen überhaupt nicht mit in die Sprache ein. Über die Frauenkörper als Fokus können Lesende viel mehr aus der Erzählung mitnehmen. Auch schwierige Sachen können körperlich einfacher übermittelt werden. Einen Körper haben wir alle und wenn wir mit dem eigenen Körper anderen gegenübertreten, können wir uns gegen Empathie gar nicht mehr wehren.

Worin sehen Sie die Vorteile und Gesetze der Fiktion im Schreibprozess?

Die Gesetze des Schreibens mit Blick auf einen Roman erfordern eine gewisse Dramaturgie mit Gegensätzen und Spannungsaufbau. Das muss man als Schreibende dann einfügen. Rhetorische Mittel rahmen die Erzählungen ein, sodass man die Geschichten besser anschauen kann. Die Fiktion und besonders auch die Sprache, der ich mich bediene, führen zu einer Verdichtung des Erzählten. Aber genau wie bei den Gesprächen, die ich führe, verlasse ich mich auch beim Schreiben auf die Intuition. Da spielt auch wieder die Erfahrung mit rein, da ich auch schon viel über reale Menschen geschrieben habe, die das, was ich über sie geschrieben habe, dann auch für richtig befunden haben.

Einfach O. – ist das ein Symbol, einfach ein Kreis oder gar ein Link zur Marquise von O.?

Nein, letzteres sicher nicht, auch wenn das viele denken. Es ist eher ein Symbol für Bewegung. Es bildet auch einen Zyklus ab, in dem Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit ineinander greifen. Wenn ich ehrlich bin, mochte ich das auch immer in der New York Times, wenn die Namen immer mit einem Buchstaben abgekürzt waren (lacht). Ich fand das immer schon cool. Von Anfang an stand fest, die Protagonistin heisst «O». Punkt. Es sieht aber auch ein wenig aus wie ein Loch. Es gibt diese eine Szene, in der O. Löcher häkelt. Da sehe ich mich selbst, ich kann selbst nicht so gut nähen oder allgemein Textilien bearbeiten, aber ich webe oder nähe mit Sprache und so ist auch dieser Roman entstanden. Er ist eben mein Textil und mein O.

Die Odyssee der O. oder von der Vergeblichkeit anzukommen

Schon Tabea Steiners einleitende Worte zu Scholls Roman tauchen den hellen Saal des Rathauses in eine nachdenkliche Stimmung. Hierher, unter die Kronleuchter-ähnlichen Lampen (auch O-förmig) und auf die gepolsterten Holzstühle passt das Wort «privilegiert» vielleicht besonders gut.

So auch zur Protagonistin O. im gleichnamigen Roman. Denn im Gegensatz zu den Frauen, die sie auf ihrer Irrfahrt aus den Wogen rettet, trägt sie ihren Pass und die Kreditkarte ihrer Mutter stets bei sich. Ist es also ein Reisebericht oder eine Fluchtgeschichte? Eigentlich keines von beiden. Wer würde auch die Odyssee der einen oder anderen dieser Kategorien zuordnen wollen? Diesen Anspruch erhebt der Text auch für sich, er will ein Epos darstellen, aber in seiner Form doch lieber frei bleiben. Die griechische, oft sehr männlich orientierte Mythologie dient der Erzählung als Folie, in die Scholl ihre weiblichen Figuren einsetzt. An Stelle der Männer sind es nun die Frauen, die eine Stimme haben, die von ihrer Vertreibung, Flucht und unterschiedlichen Erlebnissen sprechen. Auf epische Weise stranden die Figuren auf einer Plastikinsel, begegnen aber auch den mythologischen Frauengestalten Calypso, Athene und Kirke. «Sie sehen, es ist ein unheimliches, wunderliches Buch» – und damit kann die erste Lesung beginnen.

Das Vorlesen erst lässt die Form des Epos klingend erscheinen. Nebst kurzgehaltenen finden sich immer wieder lange, metrische Sätze, die vor allem bei Beschreibungen gut zur Geltung kommen. Durch Alliterationen und Assonanzen wie beispielsweise «die Schar riesiger schwarzgrauer Schweine» trägt die Stimme den Text und verdeutlicht das Metrum, das ans klassische Epos erinnert. Im Kontrast dazu stehen die Dialoge zwischen den Figuren, die einander eher kausal und umgangssprachlich begegnen; und so plaudert O. mit Kirke ganz entspannt darüber, wann sie sich das letzte Mal verliebt hat, während ihre Schiffbrüchigen auf der Insel zum Arbeiten unter schlechten Bedingungen gezwungen werden.

Daher ist die Frage im anschliessenden Gespräch auch gerechtfertigt: Ist O. eine Heldin? O.s Egoismus, der ihr Heldenbild erheblich stört, führt dann auch schon zum Machtdiskurs. Der Roman ist ein Versuch zu erzählen, was passiert, wenn Frauen in die Machtposition rücken. Das positive Bild, das oft vom Matriarchat gegenüber dem Patriarchat gezeichnet wird, wird hier vergeblich gesucht: Auch die weibliche Führungsperson verfällt dem Egoismus und dem Vergessen der anderen. Diese anderen kann die Autorin dank Recherchen und Gesprächen aber trotzdem gut abbilden. Dies zeigt sich auch im zweiten Leseblock, in dem der Fokus auf der Ausbeutung der gestrandeten Frauen liegt und ihnen in ihrem Leid trotzdem Stimmen verleiht, mit der sie sich auch gegenseitig Mut machen. Scholl liest auch ein Stück vom Ende vor. Denn letztlich endet O.s Reise dort, wo sie begonnen hat, und sie bleibt die einzige der Irrfahrerinnen, die ohne Probleme dort aufgenommen wird. Die anderen Figuren scheitern am Mangel an Privilegien und deutschen Komposita, die auch das Publikum peinlich berührt zum Schmunzeln bringen. Die Vergeblichkeit, so Scholl, sei schon tief in der Bedeutung der Odyssee vorhanden. Der Stoff deute auf die Vergeblichkeit, anzukommen – und da wäre man wieder beim Kreis. Bei O. eben.

Unser Team in Thun:
Ruth Tuschewski

Zum ersten Mal auf einem Literaturfestival, aber voller Vorfreude und Erwartung. Ruth ist auf der Suche nach poetischen Bildern, den grossen, dramatischen wie aber auch den detailverliebten, vielleicht versteckten. Als nebenberufliche DaF-Lehrerin fasziniert sie Sprache aus verschiedenen Perspektiven und welche Kraft dieselben auf Leser ausüben. 

Sie studiert Anglistik und Germanistik im Bachelor an der Universität Zürich und widmet sich in ihrer Freizeit dem Schreiben kurzer Prosa und Lyrik.