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Klangvolle Verwilderung

Im Februar erschien das dritte Buch der Schweizer Schriftstellerin Simone Lappert. Nach zwei Romanen legt sie nun den Gedichtband «längst fällige verwilderung» vor. Im Gespräch mit dem Schweizer Buchjahr betont Lappert die Relevanz des Scheiterns, plädiert für eine «Verwilderung» des Kanons und gewährt einen Einblick in ihren Schaffensprozess.

Von Redaktion
8. November 2022

In Deinem Gedichtband wird in unterschiedlichen Variationen immer wieder die Frage «entschuldigung, wo kann ich hier ungestört scheitern?» aufgegriffen. Das Scheitern zieht sich damit als roter Faden durch das Buch. Sollten wir alle mehr scheitern?

Wir sollten uns auf jeden Fall mehr trauen, auch einmal zu scheitern. Dazu gibt es ein schönes Sprichwort von Samuel Beckett: «Try again. Fail again. Fail better.» Das beschreibt das künstlerische Arbeiten für mich sehr treffend: Da muss ich ein Risiko eingehen, um überhaupt etwas zustande zu bringen. Gerade bei einem Roman gibt es viel Text, der am Ende nicht ins Buch gelangt, aber auf dem Weg dorthin trotzdem wichtig war.

Und was geschieht mit dem Textmaterial, das es nicht in den Roman schafft?

Das meiste verwerfe ich, manches verbleibt dann tatsächlich in der Schublade. Manchmal gibt es kleine Ideen, Mosaikstücke, die später wieder interessant werden. Ich verarbeite zwar selten etwas eins zu eins weiter, aber manchmal schimmert etwas plötzlich in einem neuen Kontext wieder auf.

Zur Autorin

Simone Lappert, geboren 1985 in Aarau in der Schweiz, studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Mit ihrem Debütroman «Wurfschatten» stand sie auf der Shortlist des «aspekte»-Preises. Lapperts zweiter Roman «Der Sprung» erschien 2019 bei Diogenes und war für den Schweizer Buchpreis nominiert. Mit «längst fällige verwilderung» veröffentlichte sie ihren ersten Lyrikband. Lappert ist Präsidentin des Internationalen Lyrikfestivals Basel, Jurymitglied des Basler Lyrikpreises und Schweizer Kuratorin für das Lyrikprojekt «Babelsprech.International». Sie lebt und arbeitet in Basel und Zürich.
Foto: © Ayse Yavas

Zurück zu Deinem Gedichtband: Da spielt die Dichotomie von Mensch und Natur eine grosse Rolle. Du schreibst von der «zunehmenden vermoosung der gedanken» und lässt auch mal Käfer und Krokodil auftreten. Ist es Zeit für eine neue Naturlyrik?

Ich sträube mich etwas gegen den Begriff «Naturlyrik», weil ich nicht möchte, dass man die Texte einfach auf Naturbetrachtungen reduziert. Wenn ich auf Bilder aus der Natur zurückgreife, beschreibe ich damit oft einen inneren Zustand. Meist beginne ich aus einer Frage, aus einer Irritation heraus zu schreiben, etwa: «Wie ist denn das jetzt genau mit dieser Schlaflosigkeit?» Im ersten Moment kann ich dann gar nicht kontrollieren, was mir an Sprachbildern oder an Sound entgegenkommt. Und ich will es auch nicht kontrollieren, ich will diese «Verwilderung». Die Bearbeitung und Gewichtung kommt erst danach.

Was mich ausserdem beschäftigt, ist, dass wir Menschen oft so tun, als wären wir nicht Teil der Natur. Wir grenzen uns künstlich ab und das versuche ich mit meinen Gedichten ebenfalls aufzubrechen.

Die Verwilderung ist ein wichtiges Motiv in Deinem Gedichtband. «unterm packeis des kanons regen sich wutpartikel», schreibst Du an einer Stelle, und forderst «nachwachsende worte», die «hart im biss» sein dürfen. Braucht der literarische Kanon mehr Verwilderung?

Unbedingt! Der Titel dieses Gedichts lautet ja «ich auch». Das deutet den Bezug zur MeToo-Bewegung an und macht klar: Es muss eine Veränderung her. Es gibt so viele Frauenstimmen, die endlich sicht- und hörbarer gemacht werden müssen.

Ein weiteres wichtiges Thema Deines Gedichtbandes ist die Vergänglichkeit. Es geht um die weit zurückliegende Kindheit, um verflossene Liebschaften und vieles mehr. Immer wieder hältst Du aber auch mit dem Erinnern dagegen. Momente werden bei Dir «kandiert», «eingeweckt», «zu Gelée verkocht». Ist die Literatur auch eine Art des Konservierens?

Es gibt vielleicht die Möglichkeit, einen Moment oder einen Zustand mit dem Schreiben festzuhalten. Das muss man sich aber ein bisschen so vorstellen, als würde man einen Ballon festhalten: Der kann auch davonfliegen und an einem ganz anderen Ort landen. Ich gebe meinen Text zu einem bestimmten Zeitpunkt aus der Hand, entwickle mich danach aber natürlich weiter. Ein paar Monate oder auch Jahre später habe ich oft einen ganz anderen Zugang zu den Themen, die ich behandelt habe. Und das ist auch gut so.

Im Gegensatz zu Deinem dritten Buch, dem Gedichtband, sind Deine ersten beiden Bücher ja Romane. Gehst Du anders an einen Text heran, wenn Du einen Roman vor Augen hast oder eben einen Gedichtband?

Ich glaube, der Grundfunke ist immer derselbe: Es braucht eine Irritation oder eine offene Frage, um das Schreiben in Gang zu setzen. Im Prozess selbst gibt es dann aber Unterschiede. Wenn ich einen Roman schreibe, ist das immer auch ein Kennenlernen der Figuren. Ich habe einen ersten Eindruck, eine Idee, vielleicht auch ein Vorurteil gegenüber einer bestimmten Figur. Je näher ich der Figur aber beim Schreiben komme, desto vielschichtiger wird sie für mich. Manchmal kommt plötzlich unerwartet Schönes oder aber auch ein dunkles Kapitel zum Vorschein. Oft entfernt sich die Figur dann von dem Bild, das ich mir zuvor gemacht habe. Wenn die Figuren ein Eigenleben entwickeln und meine Pläne über den Haufen werfen – dann läufts eigentlich richtig gut.

Bei den Gedichten arbeite ich nicht mit Figuren, sondern eher mit Sprachmaterial – also mit Sprachbildern, Klang, Rhythmus. Aber auch da lasse ich zu Beginn den Kontrollverlust zu und schaue erstmal, was passiert. Nach dieser ersten Phase überarbeite ich meine Texte aber natürlich oft jahre-, monate- oder zumindest wochenlang.

Zu Deinem Gedichtband trittst Du meist mit einer «Spoken Poetry Performance» auf – also im Doppel mit der E-Bassistin Martina Berther. So auch hier in Solothurn. Ich nehme an, Du schreibst von Anfang an auch immer fürs Hören?

Ja, ich schreibe sehr stark für und mit den Ohren. Ich lese mir auch ganze Kapitel immer wieder laut vor, um zu überprüfen, ob da noch seltsame «Widerhaken» oder ungute Knoten sind. Jeder Text ist für mich ein Klangkörper: Rhythmus und Klang sind auch Inhaltsträger und vermitteln fast gleich viel wie die Wortbedeutung selbst. Wenn ich zum Beispiel «krachen» sage, dann hört man förmlich die Äste brechen. Genau diesen Effekt versuche ich mir zunutze zu machen. Und ich finde es dann enorm schön, diesen Klangkörper bei einer Lesung auch in den Raum zu holen, in einer Art Dreidimensionalität.

Weiter zum Klang und zum Klingen: Wie ist denn die Performance mit Martina Berther entstanden? Kannst Du uns einen Einblick in Euer Atelier gewähren?

Mit Martina habe ich zum Glück eine Musikerin gefunden, die enorm affin ist für Sprachbilder und auch für den Klang der Sprache selbst. Sie versucht sofort, das alles in Musik zu transformieren. Wenn in meinem Gedicht der Mond vorkommt, dann sucht sie in ihrem Bass den Mond. Das ist grossartig, braucht aber viel Zeit. Wir haben uns zwar irgendwann auf eine Grundstruktur geeinigt, innerhalb dieser groben Struktur improvisieren wir aber auch. Bei jedem Auftritt gilt es, sich neu auf den Raum, auf das Publikum und aufeinander einzulassen.

Eine letzte Frage: In Deinem Gedicht «bruchstellen» geht es darum, dass man – etwas frei zitiert – «rissig bleibt für streunendes, das einen sucht». Hast Du bereits neue Projekte oder lässt Du das «Streunende» auf Dich zukommen?

(Lacht) Ach ja, bei mir streunt immer viel! Im Moment haben wir das Glück, ganz oft mit diesem Programm auftreten zu dürfen. Dafür bleibt nur wenig Zeit zum Schreiben, deswegen stapelt sich das Streunende. Ich habe aber auf jeden Fall eine Idee für einen nächsten Gedichtband: Es wird ein bisschen konzeptueller, so viel kann ich schon verraten. Und es gibt auch einen dritten Roman, an dem ich arbeite.

Das Gespräch führte Jana Bersorger. / Foto: © Livio Baumgartner

Simone Lappert: längst fällige verwilderung. 80 Seiten. Zürich: Diogenes Verlag 2022, ca. 27 Franken.

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