KW41

Ein Dach für alle

Tom Kummer

Simone Lapperts zweiter Roman «Der Sprung» handelt von einer Ausnahmesituation und Allgemeinplätzen.

Von Elisa Weinkötz
12. Oktober 2019

Ob sie springt, steht nicht zur Debatte. Und eigentlich geht es auch nicht um die Beweggründe der Protagonistin Manu, auf dem Dach zu stehen. Es geht aber um alles Weitere: Um den Mob, der sich unter dem Haus ansammelt und der durch sie in Bewegung gesetzt wird. Der Sprung ist nicht nur der Sprung dieser einen Person, sondern der Moment, in dem sich ein ganzes Gefüge verschiebt.

Simone Lappert hat mit ihrem zweiten Roman ein vielstimmiges Buch geschrieben, das aus vielen kleinen Geschichten besteht. Zehn Figuren bewegen sich in dem kleinen fiktiven Ort Thalbach in der Nähe der nicht fiktiven Stadt Freiburg im Breisgau. Sie alle stehen auf unterschiedliche Weise mit dem Ereignis auf dem Hausdach in Verbindung und ihnen allen wird in den kommenden 24 Stunden Unerwartetes geschehen.

Da ist der Polizist Felix, der zum Einsatz gerufen wird, weil alle seine Kolleg*innen auf Fortbildung sind. Da ist Maren, die in der Dachgeschosswohnung des Hauses lebt, die sie nun nicht mehr betreten darf. Da ist der Hutmacher und Vegetarier Egon, der in einer Schlachterei arbeiten muss. Da ist Finn, Fahrradkurier und seit kurzem der Freund der Springerin Manu. Da ist der Obdachlose Henry, der im Park Fragen auf Zetteln verkauft. Da ist Theres, die mit ihrem Mann Werner einen kleinen Laden neben dem Haus betreibt. Da ist Winnie, die von ihren Mitschüler*innen gemobbt wird. – Einzig Manu, die auf dem Dach steht, mit Ziegeln wirft und nicht mehr herunterkommt, hat keine eigene Stimme. Ihre Figur setzt sich aus der Aussenperspektive der anderen zusammen. Sie ist Störgärtnerin – und das in jeglichem Sinne. Neben ihrem Broterwerb rettet sie Pflanzen aus Blumentöpfen und bringt sie in den Wald, damit sie wieder unterirdisch kommunizieren können.

Zur Person

Simone Lappert, geboren 1985 in Aarau in der Schweiz, studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Mit ihrem Debütroman «Wurfschatten» stand sie auf der Shortlist des «aspekte»-Preises. Lapperts zweiter Roman «Der Sprung» erschien 2019 bei Diogenes und war für den Schweizer Buchpreis nominiert. Mit «längst fällige verwilderung» veröffentlichte sie ihren ersten Lyrikband. Lappert ist Präsidentin des Internationalen Lyrikfestivals Basel, Jurymitglied des Basler Lyrikpreises und Schweizer Kuratorin für das Lyrikprojekt «Babelsprech.International». Sie lebt und arbeitet in Basel und Zürich.
Foto: © Ayse Yavas

Die Figuren sind Simone Lapperts Inventar, mit ihnen und durch sie entsteht dieser Roman, mit dem es die Autorin zu Diogenes und auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises geschafft hat. Dass es sich bei ihren Figuren und Plots grösstenteils um Stereotype handelt, steht der Ausnahmesituation gegenüber, um das sich das Geschehen situiert.

Der Polizist Felix wird an sein Kindheitstrauma erinnert. Maren wirft ihre Komplexe über Bord und brennt mit dem schönen Jaris kurzerhand nach Paris durch. Das schwarze Schaf Winnie macht plötzlich mit ihrer Peinigerin und Klassencoolsten gemeinsame Sache gegen die Jungs. Das sind Wendungen, die voyeuristischen Zwecken dienen; sie sind erwartbar oder überaus konstruiert. Die Summe der liebevoll bis zwanghaft miteinander verwobenen Einzelschicksale und Kettenreaktionen potenziert den Eindruck einer ermüdenden Konfektionsware. Dies wird spätestens deutlich, wenn ein bekannter Modeschöpfer in Mailand zufällig in der TV-Berichterstattung über die Frau auf dem Dach auf einen Filzhut aufmerksam wird, der ihm gerade noch für seine neue Kollektion gefehlt hat. So kommt der Obdachlose Henry zu 2.000 Euro für die Auskunft über seinen Designer, der wiederum in Gestalt von Egon unverhoffter Ruhm blüht.

Lappert betreibt einen erzählerischen Aufwand in filmischer Manier, ohne damit einzulösen, was der Sprung verspricht, nämlich einen Bruch mit alltäglichen und erzählerischen Standards. Auch sprachlich verfällt der Roman in einen mustergültigen Tonfall, der die Ausnahmesituationen, die er erzählt, nicht unterstützt. So bleibt der Sprung ein Buch, das unter seinen Möglichkeiten bleibt.

Am Ende mündet alles in einer verqueren Ordnung, das Gefüge bleibt im Gleichgewicht, weil jede Figur zu ihrem fulminanten Auftritt kommt. Sie alle stehen, im übertragenen Sinne, einmal an der Dachkante und springen ins Leere – doch sie fallen weich. Das tatsächlich Ungeheuerliche an diesem Buch sind nicht die Einzelschicksale, sondern der Mob, der unter dem Dach steht und ruft: «Spring doch!» Mit seinem grossen Ensemble versucht der Roman diese Massendynamik zu ergründen, aber er reüssiert nicht. Das Hausdach als Bühne könnte Perspektiven auf ein Faszinosum eröffnen, doch wer von ihm springt, landet auf Allgemeinplätzen.

Simone Lappert: Der Sprung. 336 Seiten. Zürich: Diogenes 2019, ca. 30 Franken.

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