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«Ich habe eine riesige Skepsis gegenüber der Sprache.»

Anna Stern

Soeben erschien Dorothee Elmigers dritter Roman «Aus der Zuckerfabrik» und ist in aller Munde. Shantala Hummler sprach mit der Autorin über Schreibfiktionen, die Sagbarkeit weiblichen Begehrens und die Frage, was eigentlich die Probleme des Ich-Sagens in der Literatur sind.

Von Redaktion
5. Oktober 2020

Dorothée, dein neuster Roman «Aus der Zuckerfabrik» wurde für den Deutschen und Schweizer Buchpreis nominiert und für deine beiden Vorgängerromane hast du ebenfalls zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Angesichts der sperrigen Form deiner Texte, wie erklärst du dir die Popularität und durchwegs positive Resonanz, die deine Bücher erfahren?

Als mein erstes Buch erschien, erhielt ich viel Lob, das sich vor allem darauf bezog, dass mein Schreiben als untypisch für eine junge Autorin eingestuft wurde. Man schätzte es, dass ich nicht über konventionelle Frauenthemen wie Gefühle, Beziehungen und Familie schrieb. Es gab viel Applaus für das Unkonventionelle der Form meines Buches, aber auch die Erleichterung: Endlich mal eine Frau, die nicht über Beziehungsprobleme schreibt. Wie oft wurde ich auf die Aussergewöhnlichkeit des Umstandes angesprochen, dass ich als junge Frau einen Roman über Bergbau geschrieben habe, mich also für Technik, Geschichte, Wirtschaft interessierte, oft in Verbindung mit einem Kommentar über meine kurzen Haare.
Aus einer ökonomischen Perspektive kann man also durchaus sagen, dass das Nichtbedienen von Genderstereotypen dem Buch gedient hat. Kommt hinzu, dass damals immer wieder die Forderung gestellt wurde, Literatur müsse politischer sein, und meine Bücher wurden dann als solche «politische» Bücher rezipiert. Das Problematische an diesem Zusammenschluss ist natürlich, dass er das Private, also Gefühle, Beziehungen, Familiäres etc. als unpolitisch einstuft, was offensichtlich falsch ist.
Ich hatte damals jedenfalls nicht erwartet, dass mein Manuskript überhaupt einen Verlag finden würde. Experimentelle Formen haben es ja eher schwer, zumindest bekommt man von Verlagsseite immer mitgeteilt, dass alles, was kein Roman ist, sich nicht verkauft. Ich glaube, da unterschätzen die Verlage aber die Leser*innen.

«Aus der Zuckerfabrik» ist nicht nur wegen seiner Form kein Buch, das sich einfach konsumieren lässt. Wie in deinen beiden Vorgängerromanen hast du auch dieses Mal zahlreiche Literaturzitate, Konzepte und Namen kulturtheoretischer Grössen eingeflochten. Zudem ist dem Text ein Quellenverzeichnis angehängt. Schreibst du deine Bücher eigentlich für Literaturwissenschaftler*innen?

Nein, das mache ich natürlich nicht. Dass ich die Quellen meiner Referenzen angegeben habe, sollte kein wissenschaftlicher Ausweis sein, sondern vielmehr Hinweise zum Weiterlesen an die Hand geben. Es rührte primär von dem Wunsch her, meine Fundstücke zu zeigen und weiterzureichen. Kommt dazu, dass sich mir ganz praktisch die Frage stellte, wie ich mit den Zitaten umgehen sollte: Ich hatte zu viel dokumentarisches Material verarbeitet, um deren Herkunft nicht nachzuweisen. Ich lege im Prinzip einfach offen dar, wie ich arbeite: Meine Lektüre, mein Nachdenken, mein Recherchieren – eben gerade nicht als Expertin oder Wissenschaftlerin. Aber gerade für Literaturwissenschaftler*innen, die mit dem Anspruch lesen, alles einzuordnen, jeden Bezug aufzuschlüsseln und zu verstehen, ist die Lektüre vielleicht am anstrengendsten.
Ich finde eigentlich: So wie man bei der Lektüre von Tagebüchern oder wissenschaftlichen Texten auf einen Namen oder eine Referenz stösst, die man nicht kennt und dann denkt, das muss ich nachschauen – oder: das ist mir egal – und weiterliest, so kann man auch dieses Buch lesen. Ich bekomme manchmal die Rückmeldung, dass das Tolle an der Form gerade der Umstand sei, dass man das Buch lesen könne, wie man möchte. Solch eine souveräne Lektüre wünsche ich mir für das Buch: Dass man sich nimmt, was man will. Aber ich kenne das selbst als Leserin natürlich nur zu gut, den Respekt vor dem Text. Man muss sich erst mal trauen, so selbstbewusst zu lesen.

Zur Autorin

Dorothee Elmiger, geboren 1985 in Wetzikon, lebt heute in Zürich. Sie studierte literarisches Schreiben (Biel/Leipzig) sowie Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaften (Berlin/Luzern). 2010 debütierte Elmiger ihrem Roman «Einladung an die Waghalsigen», für den sie mit dem Schweizer Buchpreis nominiert wurde. Seither arbeitet sie als freie Autorin und veröffentlicht Romane, Essays, Kom­mentare und Texte zur Kunst. Ihre Texte wurden in verschiedene Sprachen übersetzt und für die Bühne adaptiert. Ausserdem wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem aspekte-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Prosadebüt (2010), dem Erich Fried-Preis (2015) und den Schweizer Literaturpreis (2015). Elmigers dritter Roman Aus der Zuckerfabrik wurde für den Schweizer und für den Deutschen Buchpreis 2020 nominiert.
Foto: © Ayse Yavas

Was wäre denn ein selbstbewusstes Lesen?

Das bedeutet, sich nicht einschüchtern zu lassen von dem, was man nicht versteht. Es gibt unterschiedliche Arten, damit umzugehen, wenn man mit Verständnis- oder Wissenslücken konfrontiert ist: Etwa, «Ich bin nicht gemeint», nicht die richtige Leserin für das Buch, oder aber «okay, ich lese jetzt einfach weiter». Ich kenne das selbst aus dem Studium: Es hat lange gedauert, bis ich auf die Idee gekommen bin, dass auch eine gewichtige Philosophin, ein gewichtiger Philosoph mal etwas unklar formuliert haben könnte und es nicht immer an mir liegt, wenn ich etwas nicht verstehe. Bis man sich zutraut zu sagen: Das sagt mir nichts, ich lese weiter. Im besten Fall liest man meinen Text genau so. Ich gehe schon davon aus, dass Texte erst in der Lektüre vervollständigt werden. Dann ist es ein gemeinschaftliches Werk und ich als Autorin bin nicht die Autorität, die Deutungshoheit oder Lesedirektive.

Es scheint mir ein gewagter Drahtseilakt zu sein, den du mit der Aneignung dieser konventionell männlichen Erzählsituation vollführst: Zum einen die Gefahr, das weibliche Stereotyp autobiographischen Schreibens zu reproduzieren, zum anderen einen Erzählgestus zu wählen, der Objektivität fingiert und damit seinen Herrschaftscharakter verschleiert.

Für mich hatte diese Herausforderung im Erzählen durchaus auch etwas Lustvolles, Spielerisches. Ein Ich zu schreiben, das gebrochen wird, das oszilliert zwischen einer fiktiven und einer autobiographischen, essayistischen Position. Ich fand die Auseinandersetzung mit der Frage, was eigentlich die Probleme des Ich-Sagens in der Literatur sind, enorm spannend. Ein Beispiel aus der Computerspielwelt, das ich am Ende wieder aus dem Manuskript gestrichen habe: Bei Ego-Shooter-Spielen gibt es zwei Modi; entweder der Körper der eigenen Spielfigur ist im Bild zu sehen (Third-Person-Shooter) oder aber man sieht nur das vor einem liegende Areal – der Körper ist dann nur Instrument, Mittel zum Zweck (One-Person-Shooter). Die Frage, die sich da stellt: Gibt es eine Unbefangenheit im Sehen (und im Erzählen)? Oder wird das Ich ständig mitgedacht, das eigene Sein in der Welt, der eigene Körper? Die Loslösung vom Körperlichen, das objektive Auge, das sind natürlich auch Versprechen, die im Schreiben liegen und in der Schrift selbst: Dass man den Körper verlassen kann, dass man Zeichen ohne Körper produziert.

Dieser «God Trick», wie Donna Haraway das Verdecken der jeweiligen Situiertheit des sehenden, erkennenden Subjekts nennt, ist tief verankert in der abendländischen Kultur und an männliche Hegemonie gebunden. Ist diese Intimität, die du im Erzählen herstellst, so gesehen politisch motiviert?

Obwohl ich dieses Ich im Text ja immer wieder in Frage stelle, war es mir zugleich wichtig, sehr deutlich zu machen, woher ich als Autorin schreibe und spreche, sprich die konkreten Bedingungen des Schreibens, Erzählens und Nachdenkens sichtbar zu machen: Da ist eine weisse Europäerin, Schweizerin, etc. die unter bestimmten Bedingungen diese Recherche betreibt. Auch dafür habe ich das Ich gebraucht.
Ich finde, ein Text muss immer auch Rechenschaft darüber ablegen, wie sich die Autorin zum Material verhält. Das ist eine Grundfrage des Schreibens. Man nimmt sich da ja immer etwas, für den Text, aber auch für sich. Diese Aneignungsgeste auszustellen und transparent zu machen, aus welchen Verhältnissen heraus geschrieben wird, ist für mich unerlässlich. Dafür gibt es unzählige Möglichkeiten: Nur schon die Wahl des Vokabulars, oder die Vorsicht, mit der man sich einem Material annähert, die Entscheidungen, die man bei der Figurenzeichnung trifft etc. Diese Fragen bilden sich in der unablässigen Suchbewegung meines Textes auch ab: Es ist der Versuch, mich den Dingen anzunähern, sie in Sprache zu fassen, der zwangsläufig immer wieder scheitern muss.

Eine der wiederkehrenden Aporien der Darstellung in «Aus der Zuckerfabrik» ist die des weiblichen Begehrens respektive des weiblichen Schreibens über das Begehren, die fundamentale Problemstellung der écriture féminine.

Ich weiss nicht, wie bewusst ich mich damit auseinandergesetzt habe. Aber es stimmt, dass gerade diese Szenen, in denen die Ich-Erzählerin die Figur C. auf unterschiedliche Weise zu verführen versucht, für mich eine wichtige Rolle spielen: Sie spricht Einladungen aus, versucht, den Ort, den sie C. zeigen will, zu skizzieren; revidiert und verwirft diese Einladungen immer wieder. Wie benennt man das Gebiet des Begehrens, was für eine Sprache hat man dafür gelernt, das beschäftigt mich schon.

Die stereotype, patriarchale Repräsentation der Begehrensstruktur zeigt den Mann als Subjekt des Begehrens, das dieses Begehren ausspricht, während die Frau die Position des stillen Objekts dieses Begehrens besetzt. Indem du die Verführungsversuche einer Frau ins Zentrum rückst, vollziehst du so gesehen schon eine Umkehrung – wenn auch dieses Begehren sehr zurückhalten artikuliert wird und es oft beim Versuch bleibt. Es ist fast schon eine melancholische Sicht auf das Begehren, die du zeichnest.

Das stimmt, es gibt da eine Zurückhaltung: Erzählt werden vor allem die Versuche, das Begehren zu formulieren – und ihr Scheitern. Aber dann sind da auch Figuren wie Ellen West, die ich wahnsinnig spannend finde – nicht wegen ihrer Essstörung, sondern wegen ihres riesigen Hungers als etwas, das zu viel ist und sich in alle Bereiche des Lebens erstreckt. Als Frau so einen Hunger zu haben und zu artikulieren ist auch heute noch unter Umständen riskant, so wie eine Frau, die alleine auswärts essen geht, ein seltener Anblick ist. Zu behaupten: Ich bin nur da, weil ich essen will. Es ist zwar möglich, das zu tun – aber wird es dann gleich zum Statement oder ist es möglich, sich in diesem Raum ganz beiläufig aufzuhalten, darin zu verschwinden? Die Bezüge zum Essen und die Einladungen, die ausgesprochen werden, habe ich auch in diesem Licht gesehen. Und vor dem Hintergrund der Me-Too-Debatten habe ich mich gefragt: Gibt es eine Möglichkeit, einen positiven Bezug auf die eigene Sexualität zu nehmen? Ich will nicht nur Nein sagen können, sondern eben auch Ja. Und ich will scheitern können. Das verbindet sich natürlich mit aktuellen Themen im feministischen Diskurs wie Sexpositivity oder der Frage, wie sich Frauen im öffentlichen Raum bewegen (können). Und das schliesst wiederum an die Frage an, was mir als Frau für eine Sprache für diese Dinge zur Verfügung steht.

Deine eigene literarische Sprache zeichnet sich durch eine auffällige Abstinenz von rhetorischem Sprachschmuck aus. Stilistisch wie formal bleibst du hier einem gewissen Realismus verpflichtet, erzeugst aber in der schlichten detailreichen Beschreibung deine ganz eigene Poetik. Gibt es bei dir ein Unbehagen an der bildhaften Sprache?

Ganz grundsätzlich gibt es natürlich eine riesige Skepsis gegenüber der Sprache. Ich habe den Anspruch, alles immer wieder neu und von Grund auf zu formulieren: Ein Grossteil von dem, was ich mache, ist es, Sprache zu untersuchen und das loszuwerden, was den Blick auf die Dinge durch Konventionen und eingeschliffene Formulierungen verstellt. Wenn ich also keine Metaphern oder Tropen verwende, dann weil das konventionalisierte Sprechen in die etablierte Bildsprache einfliesst und ich das Tradierte ausräumen möchte. Sprache muss ständig darauf untersucht werden, was sich in ihren Wendungen und Formulierungen eigentlich zeigt. Beim Lesen von Büchern, in denen sich so abgegriffene Wendungen tummeln, befällt mich immer eine grosse Müdigkeit. Ich habe schon den Anspruch, alles immer neu zu formulieren, die Sprache neu aufzuladen, das Verbrauchte aus dem Weg zu räumen – woran ich natürlich ständig auch scheitere.

Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik. 272 Seiten. München: Hanser Verlag 2020, ca. 28 Franken.

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