KW39

Traumreisen für Nerds

Anna Stern

Lukas Maisel wagt sich für sein Debüt auf die Äste der exotischen Entdeckungsreise hinaus. Lange droht die Erzählung unter dem Gewicht ihres postkolonialen Erbes einzubrechen – bis sie im letzten Teil doch noch ins Utopische abhebt.

Von Philipp Auchter
21. September 2020

Gerade wie dem Matrosen Marlow, der in Joseph Conrads Heart of Darkness die weissen Flecken auf den Landkarten mit seiner Sehnsucht auflädt, geht es auch Robert Akeret, dem Protagonisten aus Lukas Maisels Debütroman Buch der geträumten Inseln. Der eigenbrötlerische, zum Autismus neigende Junge, der Gesichter nicht lesen kann, entdeckt während der Arbeit in einer Druckerei bei der Lektüre naturwissenschaftlicher Texte seine grosse Leidenschaft: die Kryptozoologie. Die Kryptozoologie widmet sich der Erforschung jener Tiere, für die es nur dürftige Hinweise gibt. Die vom französisch-belgischen Zoologen und Jazz-Sänger Bernard Heuvelmans geprägte Parawissenschaft nährt Akerets Lebenstraum: Er möchte das Fabelwesen zwischen Mensch und Tier, das unter dem Namen «Yeti» oder «Nguoi Rung» oder «Orang Pendek» durch die Mythen ferner Kulturen wandert, entdecken und ihm seinen Namen geben.

Dass die Geschichte von Robert Akeret ein Hirngespinst ist, ahnt man schon in der Vorrede. Hier beginnt der Autor anhand einer recht originellen Schweizer Presseschau das Schicksal des verschollenen Autodidakten zu imaginieren, der im Auftrag von Frau Dr. Unland, Vorsitzende der Kryptozoologischen Gesellschaft, ins Herz der papuaneuguineischen Regenwälder aufgebrochen war.

Zum Autor

Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, Lehre zum Drucker, anschliessend Studium am Literaturinstitut in Biel. Für das Manuskript seines Debütromans «Buch der geträumten Inseln» erhielt er 2017 einen Werkbeitrag des Kantons Aargau sowie 2019 den Förderpreis des Kantons Solothurn. Maisel lebt in Olten.
Foto: © Rowohlt

Akeret, der zu ausufernden Monologen neigt, dient Lukas Maisel dabei als Folie, um die Expedition mit seinem umfassenden, teils abwegigen Wissen zu unterfüttern. Sei es die Taxonomie von Carl von Linné, die biogenetische Grundregel Ernst Haeckels oder das widersprüchliche Verhalten der Photonen: Das Buch sprudelt von Theorien und historischen Begebenheiten. Durch ihre Einbettung in die Fiktion erhalten sie jedoch einen irritierend ungewissen Status. Stimmt es wirklich, dass der sowjetische Evolutionsbiologe Ilja Iwanow versucht hatte, einen Schimpansen mit einem Menschen zu kreuzen? Und dass Stalin aus diesem Affenmenschen eine übermenschliche Armee züchten wollte? Oft muss hier Wikipedia der Lektüre zur Hilfe eilen. Oft lautet die Antwort: Ja, das gab es wirklich.

Auf ihrer Reise treffen Akeret und sein Assistent Blum, ein auf politische Korrektheit bedachter Student der Ethnologie, auf den Seefahrenden Mansur, dessen Geschichte merkwürde Verbindungen zu derjenigen des Helden Sawérigading aus dem Versepos La Galigo des sulawesischen Volks der Bugis aufweist. Hinzu kommt Jonah, ein der Piraterie entronnener, im ehemals deutschen Kolonialgebiet Neupommern aufgewachsener Polyglotter, dessen Grossmutter Margarete einst in eine ›Völkerschau‹ nach Deutschland verschleppt worden war.

Die anachronistische Expedition Akerets steht mit der postkolonialen Einsicht im Konflikt, dass auch die Erzähltradition der Abenteuer- und Entdeckungsreise auf einer imaginären Besitznahme und Ausbeutung fremder Länder und Völker beruht. Mit den drei einheimischen Figuren versucht der Autor, ein Gegengewicht zu schaffen. Doch indem er diese Figuren zugleich von innen und aussen fokalisiert, riskiert er nebst dem Vorwurf der kulturellen Aneignung, dass einem diese Figuren rätsellos und gleichgültig bleiben.

Dabei verfolgt dieses Buch eigentlich eine aufregende Poetik, welche den schmerzlichen Abschied vom kolonialistischen Entdeckungsbegehren reflektiert. Schon im futuristischen Singapur, wo sich Akeret eine artifizielle Prostituierte aufs Zimmer bestellt, wird deutlich, dass in der globalisierten Welt des Simulakrums keine wahre Entdeckung mehr zu machen ist. Bereits hier zeigt sich, was Frau Dr. Unland später erfahren wird:

«Die Erde sei erforscht bis in jeden Winkel, die letzte grosse Herausforderung sei nicht, Berge zu erklimmen oder in Schluchten hinabzusteigen, sondern die Erkundung des Selbst. Der wahre Abenteurer unserer Zeit werde nicht Bergsteiger oder Astronaut, sondern Traumreisender, ONEIRONAUT.»

Die Erkenntnis führt Frau Unland am Ende des Buchs in ein erotisches Abenteuer, und sie entdeckt in der Bibliothek des verschollenen Akeret das in Auflösung begriffene Buch der geträumten Städte vom Burmesischen Autor Nyein. Seine Anlage, eine utopische Reihung fiktiver Planstädte, in der man unweigerlich Italo Calvinos Le città invisibili erkennt, evoziert den poetischen Zauber der Deterritorialisierung. Im träumerischen Nebeneinander der Möglichkeitsentwürfe findet das kolonialistische Streben, mit dem der Mensch «seine Ideen zwanghaft zur Verwirklichung bringen» muss, seine Aufhebung.

Lukas Maisel: Buch der geträumten Inseln. 272 Seiten. Hamburg: Rowohlt 2020, ca. 26 Franken.

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