KW37

Dolce vita in der Badi

Anna Stern

Es wirkt geradezu hellsichtig, dass ausgerechnet diesen Sommer ein literarischer Reiseführer über Bern mit dem Titel «Er ziehe das Weyerli dem Mittelmeer vor» erscheint. Sitzen wir doch im Moment wegen Corona auf Balkonien statt im Balkan und schwimmen in der Badi statt im Meer. Für alle, die verzweifelt nach Schweizer Eskapaden suchen, naht jetzt Hilfe.

Von Selina Widmer
7. September 2020

Reiseführer à la carte

Reiseführer über Bern gibt es wie hippe Leute am Letten – doch dieser von «Das Verlag» ist etwas Besonderes. Als ein Mix aus literarischen Texten, geschichtlichen Anekdoten und Tipps rund um die Aarestadt erlaubt er unterschiedliche Lesestrategien: Wem gerade mehr nach Kurzgeschichten ist, kann von einer zur nächsten springen und alles andere links liegen lassen. Wer aber schon morgen nach Bern fährt und das Insiderwissen braucht, macht sich als erstes hinter die Seiten zwischen den Geschichten. Dort finden sich berndeutsche Begriffe zum Auffrischen und Kneipenvorschläge fürs Bier am Abend oder zwischendurch. Brav der Reihe nach durchlesen geht natürlich auch.

Ganz gleich, wie man den Reiseführer liest: Die kollektive Autorschaft der 19 beteiligten Schriftsteller*innen ermöglicht es, die Stadt von vielen verschiedenen Seiten her zu beleuchten. Die Texte erzählen vom Bundeshaus, von Fridu, der sein ganzes Leben im Fruchtwasser verbringt und vom Ende des Patriarchats. Der Höhepunkt ist wohl die Kurzgeschichte, die lehrt, wie man einen Hund auf liebevolle Art und Weise weitergeben kann, wie man plötzlich ungewollt zum Herrchen wird und wie sich das Ganze wiederholt. Da die Hundeerzählung von Lukas Hunziker im Tram spielt, gibt es en passant noch eine Stadtrundfahrt.

Durststrecken mit Happy End

Etwas kitschig mutet der Titel der Geschichte von Anaïs Meier an: «Irgendeinisch fingt ds Glück hei». Eine Ode an den Berner Mundartrock, der «heiss in den Brüsten der Menschen» brennt und gegen den Sound der anderen Kantone, denn die «können erstens leider nicht singen, zweitens leider nicht rocken und drittens leider kein Berndeutsch.» Autsch. Zu allem Übel tritt auch noch die Berner Prominenz ins Rampenlicht. Wie wenn man in den Hollywood Hills leben würde, sei das hier. Wenigstens kann man am Schluss wieder aufatmen: Die Hauptfigur findet heraus, dass sie die Textzeile jahrelang falsch verstanden hatte. Anstatt «Irgendeinisch fingt ds Glück hei» heisse es nämlich «Irgendeinisch fingt ds Glück eim».

We love Bern

Auch zwischen den Kurzgeschichten fehlt es nicht an ausgesprochener Liebe zu Bern. So lernt man zum Beispiel, dass 100 von 750 Schweizer Bieren aus dem Kanton Bern stammen. Und die Gelateria di Berna in Bern sei im Fall die echte, nicht die in Zürich. Der nostalgische Unterton, der sich hier und da einschleicht, ist vor allem in Hinsicht auf das (nicht hohe) Alter der Autor*innen etwas irritierend. Man hat jedoch das Nachsehen, denn das Buch legt den Fokus nicht hauptsächlich auf Rührseliges, sondern navigiert durchaus in lustige, fantastische und gesellschaftskritische Gewässer. Spätestens beim Schlagwort «Geister und Gespenster» wird klar, dass sich der Reiseführer doch nicht so ernst nimmt wie zwischenzeitlich vermutet. Es treten seltsame Berner Gestalten wie die «Greisin» oder das «Käfigtier» auf den Plan. Weitere Listen mit bizarren Namen regen die Fantasie an, allen voran die, welche sämtliche Tiere des Tierparks Dählhölzli aufzählt: Der Achilles-Doktorfisch, die Hirnkoralle und der Säbelschnäbler, um nur einige zu nennen, wären gefundenes Fressen für weitere Geschichten.

Nützes und unnützes Wissen

Ob hingegen das Aufzählen der Events, die die Stadt zu bieten hat, einen Mehrwert bringt, sei dahingestellt. Ein kurzer Blick in die Berner Kulturagenda wäre vermutlich hilfreicher. Die Rubrik «unnützes Wissen» hebt sich zweifellos positiv von den ernst gemeinten Tipps ab. Wie zum Beispiel die Infos über den «Brünzler». Natürlich muss man nicht wissen, dass, wer sich in der Münstergasse nach einem bestimmten Fünfliber bückt, von einem schlangenartigen Wasserspeier mit Wasser «angebrunzt» wird. Aber man kann eben. Apropos Wasser: Das Buch weiss einiges über die Aare und die Badis der Stadt zu erzählen. Anstatt mit Delfinen im Meer kann man im Marzili (einem Freibad) mit Fischen schwimmen. Gar nicht so schlecht. Oder «aareböötle», mit dem Gummiboot die Aare runter fahren. Und dann gibt es noch das sogenannte Weyerli, das Freibad mit dem grössten Schwimmbecken Westeuropas. Genauso überraschend wie die Grösse ist die Form des Bassins: Hier lässt es sich statt Längen auch Runden schwimmen. Und das Ganze kostenlos, wie in allen Berner Freibädern. Davon könnte sich Zürich ruhig eine Scheibe abschneiden, denn dann ist es auch tatsächlich schonender fürs Portemonnaie, den Sommer anstatt in «Sääntropee» in der Schweiz zu verbringen.

Der Reiseführer ist, wenn auch mitunter etwas gefühlsduselig, sehr kurzweilig (was man nicht gerade von vielen Reiseführern behaupten kann) und macht Lust, die Gegend der Bundesstadt unsicher zu machen. Da so viele Autor*innen die Finger im Spiel hatten, ist auch bestimmt für alle etwas dabei. Also: Lest das. Oder wie es der Aare Guru – die App rund um Temperatur, Geschwindigkeit und Wassermenge der Aare – heute ausdrückt: «Mer chas wage».

Er ziehe das Weyerli dem Mittelmeer vor. Literarischer Reiseführer Bern. 200 Seiten. Basel: Das Verlag 2020, ca. 27 Franken. Mit Texten von: Mirjam Aggeler, Sylvie Barbero-Vibet, Donat Blum, Christina Frosio, Dmitrij Gawrisch, Nadja Geisser, Selina Hauswirth, Lukas Hunziker, Selma Imhof, Flurin Jecker, Meral Kureyshi, Michael Nejedly, Anaïs Meier, Patrick Savolainen, Désirée Scheidegger, Noemi Somalvico, Tabea Steiner, Anna Robinigg, Myriam Wahli.

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