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Geschichte einer Grenzgängerin

Anna Stern

In ihrem zweiten Roman «Fünf Jahreszeiten» zeichnet Meral Kureyshi das intime Portrait einer jungen Frau, die in der Liebe die Vergangenheit zu bannen sucht.

Von Salomé Meier
28. September 2020

Es ist das Bild einer kalten Hauptstadt, die Meral Kureyshi in ihrem neuen Roman Fünf Jahreszeiten entwirft. Eine unnahbare Grazie in einem Gewand aus olivgrünem Sandstein, hoch über der Aare, deren gleichmässiges Fliessen das Fortschreiten der Zeit in Erinnerung ruft. Vor dieser Kulisse entfaltet Kureyshi die Geschichte einer jungen Frau, die ihren Master in Filmwissenschaften abgebrochen hat und nun im Kunstmuseum als Aufseherin arbeitet. Die Liebe zu ihrem Freund Manuel ist über die Jahre abgekühlt. Ein schleichender Prozess, den die Erzählerin treffend mit ihrem Knopf um Knopf verlierenden Mantel vergleicht: «Jetzt hält ihn eine Sicherheitsnadel zusammen, er wird vom Wind aufgerissen, ich halte ihn mit einer Hand zu.»

In den alternativen Bars und Clubs der Berner Reitschule entkommt sie der Kälte, findet Zuflucht in Alkohol und Gesprächen. Eines Abends lernt sie dort Adam kennen, die beiden beginnen ein Verhältnis. Adam ist Kunststudent, der, wie sich herausstellt, an Depressionen leidet und immer mal wieder für ein paar Tage abtaucht. Das Verhältnis belastet die Beziehung zu Manuel. Er stellt sie vor ein Ultimatum. Unfähig, eine Entscheidung zu fällen, trifft sich die Erzählerin weiterhin mit Adam, wenn Manuel übers Wochenende für eine Tagung wegfährt.

Die Sehnsucht nach dem Abwesenden

Schnell wird deutlich, dass auch Adam nicht die langersehnte Liebe ist, für die es sich lohnen würde, Manuel zu verlassen. Wie so oft liegt die Krux in der Dynamik des Seitensprungs: Je mehr die Erzählerin von Gewissensbissen geplagt wird, die sie an Manuel denken lassen, wenn sie neben Adam unter den Lauben hergeht, desto deutlicher wird, dass es nicht der Andere ist, den sie begehrt, sondern derjenige, der gerade nicht bei ihr ist, der Abwesende, der Unverfügbare. Hinter all dem vernehmen wir das Rauschen eines Ferngesprächs: Die Telefonate mit ihrer Mutter Anne, die nach dem Tod ihres Mannes nach Prizren, Kosovo, zurückgekehrt ist. «Wer soll das Grab pflegen wenn ich nicht da bin?», entgegnet sie ihrer Tochter durch den Hörer.

Zur Autorin

Meral Kureyshi, geboren 1983 in Prizren (ehemaliges Jugoslawien), lebt heute in Bern. Nach dem Studium am Literaturinstitut in Biel gründete sie das Lyrikatelier. Heute arbeitet Kureyshi als freie Autorin. Ihr Romandebüt «Elefanten im Garten» (2015) wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert, mehrfach ausgezeichnet und in verschiedene Sprachen übersetzt. «Fünf Jahreszeiten» ist Kureyshis zweiter Roman und wurde im Manuskript mit dem Literaturpreis «Das zweite Buch» der Marianne und Curt Dienemann Stiftung ausgezeichnet.
Foto: © Matthias Günther

So unausgesprochen der Tod des Vaters ansonsten im Raum der Erzählung bleibt, so deutlich kehrt er wieder in den Bildern und Metaphern: Plötzlich fallen der Erzählerin die einzelnen Haare auf dem Boden auf, als sie im Museum ihre Runden dreht. Mit dem Fuss wischt sie sie in die Rillen des Parketts, genauso den Fingernagel, den sie in die Ecke hinter einer Statue verbannt. Es sind menschliche Überreste, die sich hier, an diesem kulturellen Gedächtnisort, ihre Präsenz verschaffen und von der Erzählerin konsequent verdrängt werden.

Existenz des Dazwischen

Die Telefongespräche mit der Mutter schlagen eine Brücke zur alten Heimat, hinterlassen in der Erzählerin aber zugleich das Gefühl eines unwiederbringlichen Verlusts. Schliesslich ist es der Verlust des Vaters, den die Erzählerin in all ihren Liebesbeziehungen vergeblich zu kompensieren sucht. Und die Unfähigkeit sich für ein Studium, einen Beruf oder einen Partner zu entscheiden, sprich: ihrem Leben irgendeine Richtung zu geben, das Symptom einer tiefgreifenden Entwurzelung, von der bereits Meral Kureyshis erster Roman Elefanten im Garten handelte. In dem Debüt, das 2015 erschienen ist und für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde, erzählt sie von der Migration der Familie aus Jugoslawien in die Schweiz Anfang der 1990er. Doch von einer «Ankunft» im neuen Land kann im übertragenen Sinne keine Rede sein. In der Protagonistin bleibt das Gefühl zurück, ihr Leben weder ganz hier, noch ganz dort zu führen.

Als Folgeroman stellt Fünf Jahreszeiten den durchaus gelungenen Versuch dar, sich vom engen Label «Migrationsliteratur» zu emanzipieren, ohne darüber die Fragilität von Herkunft und Identität als existentielles Thema fallen zu lassen: Denn auch in diesem Roman ist es zuletzt die Steinbrücke, jener symbolische Ort des Dazwischen, von dem aus die Erzählerin das Neujahrsfeuerwerk beobachtet, während tief unter ihr – unaufhaltsam – der Fluss seinen Weg durch die nächtliche Winterlandschaft bahnt.

Meral Kureyshi: Fünf Jahreszeiten. 200 Seiten. Zürich: Limmat Verlag 2020, ca. 28 Franken.

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