KW46

In Absentia

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Von Philipp Theisohn
16. November 2016

Am Ende ist es Christian Krachts «Die Toten» geworden – und damit wird der Schweizer Buchpreis im kommenden Jahr durch einen Text vertreten, der weniger eine Geschichte erzählt als vielmehr reflektiert, wie Geschichte erzählt wird. «Die Toten» sind zweifellos ein widerständiges, ein sperriges Buch; sperrig zumindest für Leser, die die Qualität von Literatur vor allem im greifbaren Sujet suchen. Nicht, dass Krachts Roman kein Sujet hätte. Aber wenn man es benennen will – passende Kandidaten wären Stummfilm, Faschismus, Japanophilie -, dann merkt man schnell, dass dieses Buch solche Reduktionen nicht verträgt. Dieses Buch gewinnt seine Qualitäten aus den Zusammenhängen zwischen den Bildern, aus den Adjektivmustern, die sich im Laufe der Lektüre ergeben: Es handelt sich – darin ist er konsequent – um einen «visuell» agierenden Text. Er transzendiert seine Sujets. Und lässt sich deshalb nicht raffend zusammenfassen.

In der Sujetablösung durch eine verselbständigte Bildsprache hat Christian Kracht spätestens seit «1979» (2001) seine Königsdisziplin, ja: vielleicht auch seine «Poetik» gefunden. Ganz gleich, wie man es nennen will: Auf diesem Terrain können es nicht viele mit ihm aufnehmen. Zu Beginn von Krachts literarischem Schaffen, in «Faserland» (1995), hüllte sich diese Technik noch in das Gewand der Warenästhetik. Viele seiner Kritiker hielten und halten Kracht deswegen immer noch für einen Repräsentanten dessen, was man damals «Popliteratur» nannte. Aus heutiger Perspektive lässt sich sagen: «Faserland» war ein Camouflageroman, ein Täuschungsmanöver. Kracht hatte das von ihm ersonnene Verfahren der ästhetischen Erkaltung – eines Erzählens, das den «Stoff» hinter einer bunten Oberfläche allmählich erfrieren und absterben lässt – einfach nur in das nächstliegende Gewand seiner Zeit eingesponnen. Mit Stuckrad-Barres «Soloalbum», Alexa Hennig-von Langes «Relax» oder Joachim Lottmanns «Deutsche Einheit» aber verband diesen Text wenig. Die wollten cool sein. Kracht wollte den Schockfrost.

Und so blieb er auch der einzige aus der jungen deutschsprachigen Literaturszene der 1990er, der sich sowohl treu bleiben als auch radikalisieren konnte. Den Grundstein seiner Profilierung bildete dabei sein Vermögen, immer wieder neue faszinierende Szenarien ausfindig zu machen, die er in ihre Details auflösen, in ihren Bildern ersticken konnte. Stets war dieser Ästhetizismus ein politischer: Krachts Texte richten die Geschichte so zu, dass man in aller Ruhe betrachten kann, welche Abgründigkeiten die Gegenwart birgt. Alles verwandelt sich diesem Schreiben in Oberflächen, weil es weiss, dass die Menschen ihre Exzesse immer in Oberflächen verwandeln. Kracht zeigt aber auch die Kosten dieser Verwandlung: Unter der Barbourjacke der Freundesmörder, auf dem Ink Spots-Tape die Reden Ayatollah Khomeinis, im Reduit eine kosmische Waffe, auf dem Zelluloid Eros und Thanatos. Und hinter den Kulissen die Nazis.

Der Gestus dieses Schreibens ist nicht selten, oft auch bewusst oder böswillig missverstanden worden. Dessen ungeachtet macht er Schule, Schüler und Schülerinnen – und nicht die schlechtesten. Dass in Basel mit Michelle Steinbeck eine Mitbewerberin neben ihm sass, deren Debüt bereits recht souverän sein Sujet in Bilderfluten ertränkte, hat Christian Kracht zweifellos mit Wohlgefallen registriert. Beide Texte – «Die Toten» wie «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» – stehen für die oft stumpf verachtete, aber kulturell höchst bedeutsame Tradition helvetischer Drastik. Die Schweiz ist nicht nur das Land von Frisch, Giacometti und Mani Matter. Sie ist auch das Land von Hermann Burger, H.R. Giger und Celtic Frost. Und von Christian Kracht.