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Was bisher geschah

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Wie spricht man über 2016? Reklamieren oder sentimental werden kann man andernorts. Die literarische Schweiz hat im vergangenen Jahr ihre ganz eigenen Spuren hinterlassen, denen sich nachzugehen lohnt. Zumindest dann, wenn man verstehen möchte, was folgt.

Von Philipp Theisohn
2. Januar 2017

Wie spricht man über 2016? Reklamieren oder sentimental werden kann man andernorts. Die literarische Schweiz hat im vergangenen Jahr ihre ganz eigenen Spuren hinterlassen, denen sich nachzugehen lohnt. Zumindest dann, wenn man verstehen möchte, was folgt.

Prägend für das vergangene Schweizer Buchjahr waren einerseits die Verhandlung weiblicher Identitätsentwürfe, andererseits eine überraschende Wiederannäherung an die Tradition des Magischen Realismus. Dass Michelle Steinbecks Debüt Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch zum Reizpunkt der öffentlichen Auseinandersetzung werden konnte, lag weniger an der indiskutablen Skandalisierung ad hominem, sondern daran, dass Steinbecks Text die beiden genannten Diskurse am konsequentesten zusammenführte. Die unabschliessbare Selbstfindung ihrer Loribeth hatte natürlich etwas Gewaltsames, insofern sie nicht die Figur, sondern ihre Umgebung dem Wandlungsprozess der Adoleszenz unterwarf, Landschaften und Körper verformte, auseinandernahm und neu zusammensetzte. Alte Schule, auf kleinem Raum bemerkenswert schön umgesetzt. Vielleicht war die Coda, dass auf dem Grunde dieser Reise der absente Vater schlummert, etwas zuviel des Freudianischen. Indessen stand Steinbeck auch mit dieser Volte nicht alleine im Toni Erdmann-Jahr. Auch Rebecca C. Schnyders Erstling Alles ist besser in der Nacht liess seine Protagonistin Billy präzise um die väterliche Leerstelle exzessiv herum randalieren. Keine Elektra, stattdessen ein veritabler Anti-Ödipus: ein tobendes, vulgäres, zerbrechliches und latent bulimisches Es. Apropos: Woher die in den Fiktionen femininer Krisis in jüngster Zeit auffällige Affinität zum Essen kommt, werden wir kommende Woche mit Simone Meier besprechen.

Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Kontext ein weiterer Roman, der im Licht einer zersplitternden weiblichen Biographie eine seltsam unwirkliche Stadt – in diesem Falle Bern – entstehen lässt: Sabine Hunzikers Flieger stören Langschläfer. Auch Hunzikers Judith befindet sich im Kampf um ihrem Raum – ein Mietshaus -, vielmehr aber auch im Kampf um den sozialen Raum, in dem sie zwei Figuren ausgeliefert ist, die recht konkret auf ihre emotionalen und intellektuellen Bedürfnisse bezogen sind – und sie doch zugleich aussaugen. Aus der Überlagerung von Stadttopographie, Psychodynamik und reichlich Bildungszitat entsteht so nach und nach eine erstaunlich berührende Chronik der Erschöpfung, der auf mittlere Sicht viel mehr kulturhistorische Bedeutung zukommen könnte, als sie in den Feuilletons erfahren hat. Das Publikum des Buchjahr-Literaturclubs «5/16» hatte das entsprechende Gespür und hat Flieger stören Langschläfer zum interessantesten Text 2016 gewählt. Unmittelbar vor einer weiteren Hauslieferung aus dem Reich des Imaginären übrigens, nämlich Dieter Zwickys biographischem Doppel Hihi – mein argentinischer Vater, dessen Stärke freilich mehr in der Miniatur zu suchen ist. Aber ums Essen geht es auch da einmal mehr. Stichwort Plata-Rinder.

Was gab es sonst noch Bemerkenswertes? Ein drittes starkes Debüt in jedem Fall: Frédéric Zwickers Geriatrieroman Hier können Sie im Kreis gehen, der einen tiefen Blick in die demente Welt wagt und dabei weder zynisch noch rührselig wird, sondern sehr souverän und ernsthaft das Pflegeheim zu einem würdigen Erzählkosmos werden lässt. Nicht ganz so spektakulär, aber dennoch augenfällig erschien uns über das gesamte Jahr hinweg die Konjunktur des Sujets «virtuelle Affäre», am gekonntesten wohl umgesetzt in Mireille Zindels Kreuzfahrt. Auch dieses Thema verschwindet so schnell wohl nicht wieder von der Agenda; die Signifikanz dieses Narrativs bleibt zu klären.

Skandale? Keine echten. Der um Roman Grafs Mädchen für Morris blieb sogar ganz aus. Ein bisschen Aufregung gab es um Jonas Lüschers Attacke auf Peter Stamms Literaturverständnis Ende Oktober (Stamms Replik dazu hier). Jenseits von Ressentiment und Aufregung liesse sich daraus immer noch eine schöne Debatte basteln, denn die Frage, wie «politisch» Literatur sein darf und vor allem: wie Literatur politisch wird, ist in einem Klima, das intellektuelles Engagement sowohl fordert wie stigmatisiert, von höchster Virulenz. Geht es wirklich noch um «littérature engagée»? Oder muss der soziale Beitrag der Literatur, wie Stamm unter Bezugnahme auf Tim Parks nahelegt, gerade im Abstehen vom Zeitgeist gesucht werden? Beide Perspektiven werden wir beleuchten; Lüschers Ende Januar erscheinender Roman Kraft wird uns den ersten Anlass dazu geben. Mit Spannung warten wir unterdessen auch auf den mittlerweile schon sagenumwobenen Hagard-Roman von Lukas Bärfuss, auf Noëmi Lerchs Grit, auf Michael Fehrs Glanz und Schatten sowie auf Christoph Höhtkers Abschluss der Frank-Stremmer-Trilogie, die unter dem Titel Das Jahr der Frauen im Herbst erscheinen soll.

Und schliesslich bleibt: Christian Kracht, der wohl helvetischste Schriftsteller unserer Zeit, als der er aber erst noch entdeckt werden musste. Das ist im Übrigen ganz und gar nicht ironisch gemeint und bezieht sich auch nicht auf Krachts formidables Berndeutsch, sondern auf die brachiale Kühlheit, mit der er in seinen Texten immer wieder – auch und gerade in seinem mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichneten Roman Die Toten – die Schweiz als Geschichtslabor nutzt. Und damit den Weg für eine literarische Reprogrammierung des Landes ebnet. Nicht allen mag dies gefallen; aber insbesondere für die jüngeren Schweizer Autorinnen und Autoren, man wiederholt sich, kann Kracht zu einer echten Leitfigur werden – wenn er es denn nur will. Anders als Frisch und vielmehr im scharfen Gegensatz zu diesem etabliert Krachts Erzählen den distanzierten, man möchte sagen: den neutralisierenden Blick nicht als Symptom einer neuen «maladie suisse», die man dringend kurieren müsste, sondern das gegenüber der Moderne und ihren Verwerfungen einzig adäquate Diagnoseinstrument. In Tagen, in denen jeder zweite Jahresrückblick die 1930er wieder heraufbeschwört und in denen viel von der Sprache des Faschismus die Rede ist, darf man sich daran erinnern, dass es Krachts Romane waren, die all diese Prozesse längst unter dem Mikroskop beobachtet hatten. Viel relevanter kann Literatur nicht sein.

P.S.: Wer hier die italienisch-, französischsprachige und rätoromanische Literatur vermisst, der darf sich auf die kommenden Wochen freuen, in denen wir von kompetenter Seite verfasste Bestandsaufnahmen aus dem Tessin, dem Bündnerland und der Westschweiz liefern werden. Gleiches gilt für das Spektrum der Schweizer Gegenwartslyrik, die – wie eigentlich immer – im vergangenen Jahr zu kurz kam.

Kurzfassung – unsere völlig subjektive Shortlist 2016:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Im Blickfeld:

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