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Horrorszenarien der Bürgerlichkeit

Letztes Jahr ist der vielbeachtete Debütroman von Kyra Wilder «Little Bandaged Days» in deutscher Übersetzung unter dem Titel «Das brennende Haus» erschienen. Darin zeichnet Wilder ein klaustrophobisches Zerrbild der bürgerlichen Kleinfamilie, in dem der Protagonistin nur die Flucht in den Wahnsinn bleibt.

Von Livia Sutter
18. Oktober 2021

Eine unheimliche Idylle

M, E und B: Das mulmige Gefühl stellt sich gleich auf der ersten Seite ein. Mann, Erstgeborene, Baby? Nicht einmal Initialen sind das, vielmehr Platzhalter. Spricht so eine glückliche Mutter und Ehefrau von ihrer Familie? Eine solche gibt die Erzählerin, die ihrerseits namenlos bleibt, jedenfalls vor zu sein. Sie ist mit ihrer Familie aus den USA in die Schweiz, nach Genf gezogen, vorläufig in eine kleine Wohnung, bis das neue Haus bezugsbereit ist. Ihre Mutter reagiert mit «Achumhimmelswillen», wenn sie die Wohnung auf dem Videoanruf sieht, doch was sie da sieht, das verbirgt die Erzählerin lange vor den Leser:innen. Dieser Erzählerin ist nicht zu trauen, und das gilt für die Leser:innen wie auch für die Protagonistin selbst. Schön ist es hier, in ihrer neuen Heimat, beteuert sie, alles ist schön, neu, aufgeräumt, sauber, teuer. M hat in Genf eine anspruchsvolle Stelle angenommen, die Erzählerin unterstützt ihn dabei und kümmert sich ausschliesslich um die Kinder. Sie bemüht sich, ihre neue Rolle als Hausfrau perfekt auszufüllen und eine gute Mutter zu sein: Hemden in die Reinigung bringen, Apfelstücke für die Kinder schneiden, frische Zitronen kaufen, lustige Spiele erfinden. Doch wenn alle Aufgaben erledigt sind und die Kinder schlafen, überfällt sie die Einsamkeit. Die Existenz des Mannes verrät sich oft nur noch durch die Hemden, die er am Boden zurücklässt; von einer anderen Mutter, die sie auf dem Spielplatz trifft und für ihre scheinbare Gelassenheit bewundert, trennt sie die Sprachbarriere. So werden die Wohnung und die Kinder für die Erzählerin zu einem Mikrokosmos, der immer unheimlichere Züge annimmt: Bald kann sie die Wohnung aus Angst vor den Nachbarn nur noch durch das Küchenfenster verlassen, muss immer mehr Zitronen kaufen, Schmierereien aus Lippenstift erscheinen an der Decke im Badezimmer. Und dann ist da noch jemand anderes in der Wohnung. Jemand, der nachts die Haare ihrer Tochter flicht und dem Baby Lieder vorsingt und sie aus dem Dunkeln heraus anstarrt.

Zur Autorin

Kyra Wilder, geboren 1984 in den USA, studierte Englische Literatur an der San Francisco State University. Nach ihrer Tätigkeit als Sterne-Köchin folgte der Umzug in die Schweiz, nach Genf. 2020 debütierte Wilder mit ihrem Roman «Little bandaged days», der noch im selben Jahr unter dem Titel «Das brennende Haus» in deutscher Übersetzung im Fischer-Verlag erschienen ist.
Fotot: © Robin Farquhar-Thomson

Sätze, die auf Messers Schneide stehen

Das brennende Haus ist Kyra Wilders erster Roman und im Original auf Englisch erschienen. Zur Erzählung inspirierte sie die Geburt ihres zweiten Kindes und ein Umzug in die Schweiz. Der Roman ist also einerseits biographisch inspiriert und lässt darüber hinaus Anspielungen auf Sylvia Plaths The Bell Jar oder Charlotte Perkins Gilmans The Yellow Wallpaper erkennen. Trotzdem wird den Leser:innen hier keine Interpretation über die Folgen gesellschaftlicher Ansprüche an junge Mütter aufgedrängt. Wilder lässt ihrer Protagonistin Raum, ihre Wahrnehmung und Perspektive zu erzählen und die Leser:innen ihrer zunehmend bedrohlichen Realität auszusetzen. Die Grenzen zwischen den Geschehnissen in der Wohnung und dem Erleben der Erzählerin, zwischen ihr und der anderen Mutter verwischt Wilder dabei gekonnt und erzeugt so das Unheimliche, das die gesamte Erzählung beherrscht. Es sind raffiniert konstruierte Sätze, auf denen die Erzählerin balanciert. Etwa, wenn sie ausführlich berichtet, wie scharf die Messer in ihrer Küche sind, die sie fleissig schleift, und dann hinzufügt: «Ich hätte mir mit ihnen die Arme rasieren können.» Meistens findet sie das Gleichgewicht im letzten Augenblick, ersetzt durch etwas Harmloseres, was eine glückliche Mutter und Ehefrau aussprechen darf. Aber man erwartet den Absturz mit jedem nächsten Satz.

Vorblende: Nach der Katastrophe

Die Handlung wird dabei immer wieder durch Einschübe unterbrochen, die als Monolog verfasst sind und in denen sich eine Patientin in einer psychiatrischen Klinik – natürlich die Protagonistin – an eine Reinigungskraft wendet. Sie versucht ihr zu erklären, warum sie hier ist, warum sie tun musste, was sie getan hat. Schnell wird klar, dass diese Einschübe als Vorblenden zu lesen sind und auflösen sollen, was sich nach dem Einzug in das neue Haus zugetragen hat. Die Tat selber findet zeitlich zwischen den beiden Erzählsträngen statt und wird darum im Roman nicht beschrieben, verrät sich aber bereits durch den deutschen Titel – hier nimmt das englische Original Little Bandaged Days weniger vorweg. Die Erzählung hätte jedoch auch ohne diese Vorblenden gut, vielleicht sogar besser funktioniert: Diese Abschnitte scheinen sehr bemüht darum klarzumachen, dass Frauen, insbesondere Müttern, kein Gehör geschenkt wird und dass sie an den gesellschaftlichen Anforderungen, die an sie in diesen Rollen gestellt werden, zerbrechen können. Das wäre nicht unbedingt nötig, denn die Handlung in der restlichen Erzählung vermittelt dies bereits sehr eindrücklich und dabei weniger explizit. Vielmehr unterbrechen diese Vorblenden den Sog, den die Handlung entwickelt und nehmen vorweg, auf welches Ende die Erzählerin zusteuert – damit geht leider auch ein gewisses Mass an Spannung verloren, die Kyra Wilder sonst so gelungen aufbaut.

Kyra Wilder: Das brennende Haus. 256 Seiten. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 2020, ca. 33 Franken.