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Goebbels musikalische Schattenarmee

Der Schweizer Schriftsteller Demian Lienhard wagt sich mit seinem neuen Roman «Mr. Goebbels Jazz Band» an ein Stück bisher unbekannte Nazigeschichte: eine musikalische Schattenarmee, die den Feind mit Propagandajazz beschallt. Das überstrapazierte Spiel mit Metafiktion verdeckt aber leider den grossartigen Erzählstoff.

Von Anna Larcher
21. Juli 2023

Das Nazi-Propaganda-Projekt, das Demian Lienhard in seinem neuen Roman thematisiert, wird selbst für viele Geschichtsinteressierte Neuland sein: Während des Zweiten Weltkriegs verbreitete das NS-Regime über den Auslandradiosender Germany Calling anti-alliierte Hetztexte in Grossbritannien. Ausgerechnet mittels «entarteter» Swingmusik. Bis zu sechs Millionen Brit:innen lauschten täglich den Propagandatexten: «Why listen to old Churchill who never hold a gun. He’d rather sit back, or run, or run!» Im Frühjahr 1940 von Joseph Goebbels gegründet, heuerte Mr. Goebbels Jazz Band nur die besten Musiker an. Dazu gehörten auch Ausländer, Homosexuelle und Juden. Für die Musiker war es ein Spiel auf Zeit, bei vorzeitiger Beendigung des Projekts wartete die Front oder das Lager. Den Erfolg der Big Band sollte ein Propagandaroman dokumentieren. Hier setzt Demian Lienhard mit seinem historischen Roman Mr. Goebbels Jazz Band an.

Zum Autor

Demian Lienhard, geboren 1987 in Baden (CH), promovierte in Klassischer Archäologie in Köln und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Für seine unveröffentlichten Texte erhielt Lienhard bereits zahlreiche Stipendien und Preise (u.a. das «Schwazer Stadtschreiber»-Stipendium) und wurde zweimal Finalist am «open mike» in Berlin. «Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat» ist sein Romandebüt.
Foto: © Laura J. Gerlach

Über lange Strecken spielt Goebbels Big Band in Lienhards Zweitling jedoch nur die zweite Geige: Der erste Romanteil skizziert die Lebensgeschichte von William Joyce, dem Moderator von Germany Calling, in Grossbritannien auch als «Stimme Hitlers» berühmt und berüchtigt. Wegen seines Aktivismus für die faschistische Partei in London gesucht, flüchtet er mit seiner Frau nach Berlin und arbeitet dort fürs Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda. William Joyce ist es auch, der sich auf die Suche nach einem geeigneten Autor für den Propagandaroman macht und den noch unveröffentlichten Schweizer Jungschriftsteller Fritz Mahler kontaktiert.

Das alles liest sich süffig. Die Sprache pflegt einen historisierenden Stil. Leser:innen tauchen in das Berlin der 1940er ein durch detailversessene Stadtbeschreibungen und um Realismus bemühtes Ausschmücken wie Kaffeepreise im Hotel Kaiserhof. Die Fähigkeit, ein Stück Geschichte lebendig werden zu lassen, stellte Demian Lienhard schon in seinem Erstling Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat unter Beweis, in dem die Drogenszene und Jugendbewegung der 1980er in der Schweiz im Zentrum stehen. Bei Mr. Goebbels Jazz Band stellt man sich jedoch nach über hundert Seiten die Frage: Was ist denn nun mit dieser Big Band? Ah ja, jetzt aber: Angekommen in Berlin macht sich Fritz Mahler an das Schreiben. Schnell wird klar, was für grosse literarische Herausforderungen das Projekt mit sich bringt: «Wie stellt sich das Ministerium das vor? (…) Wie erzählt man die Geschichte von fünfzehn vollkommen verschiedenen Künstlern, deren einzige Gemeinsamkeit die Liebe zu ihrer Musik und ein perfekt geschnittener Smoking zu sein scheint?»

Dieselbe Frage gilt es dem Autor selbst zu stellen: Wie bewältigt Demian Lienhardt den erzählenswerten historischen Stoff? Man wird beim weiteren Lesen den Verdacht nicht los, dass Lienhardt das Erzählprojekt zu gross wurde und er vor der skizzierten Aufgabe des Romans flieht. Denn die Erzählung weicht in ein überbemühtes Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit aus. Autor Lienhard legt anhand der Figur Mahlers seine eigene Erzählstrategie aus und die Leser:innen verfolgen Mahlers Gedanken zum Schreibprozess, Romanaufbau oder der Macht des allwissenden Erzählers. Das ostentative Spiel mit der Fiktion gipfelt in der ultimativen Pointe des Romans: Wir Leser:innen lesen Mahlers angefangenes Romanmanuskript. Moritz Baßler sähe darin wohl einen verkappten Versuch, Tiefe und Bedeutsamkeit vorzutäuschen und somit einen klassischen Midcult-Fall. Gefangen in der Endlosschlaufe der Metafiktion, zielt der Roman also an den eigentlich interessanten Themen vorbei, z.B. das Schicksal der Big-Band-Musiker, das widersprüchliche Vorgehen, den als «entartet» degradierten Jazz als Propagandamittel zu nutzen, oder die Überschneidungen von Literatur und Propaganda eingehender auszuloten. Wohlbemerkt die Themenfelder, mit denen der Klappentext wirbt und was die historisch dokumentarische Aufmachung des Buchumschlages vermuten lässt.

Was den Roman viel eher zusammenhält, ist der narzisstische Geltungshunger von Künstler:innen. So lässt Mahler absichtlich fünf Anrufe von Joyce verstreichen, um den Schein des Künstlers zu wahren, der wegen der nächtlichen Kreativausbrüche bis mindestens 10 Uhr schläft. Selbst das fiktive Nachwort reiht sich in diese Kernthematik ein. Ein Berner Staatsarchivar beschreibt darin Autor Lienhards Obsession, seine eigene Familiengeschichte literarisch zu verarbeiten im Hoffen auf mehr Erfolg. Solche gelungenen Ironisierungen überzeugen und amüsieren zweifellos. Wer jedoch hofft, dreihundert Seiten über Mr. Goebbels Jazz Band zu lesen und mehr über die Musiker zu erfahren, wird enttäuscht.

Demian Lienhard: Mr. Goebbels Jazzband. 320 Seiten. Frankfurt a.M.: Frankfurter Verlagsanstalt 2023, ca. 35 Franken.